Die letzten Tage der Ewigkeit ist eine Sammlung von Michael K. Iwoleits Science-Fiction-Erzählungen. Sie enthält sechs Kurzgeschichten und Novellen, die zwischen 1995 und 2011 entstanden sind, darunter eine erweiterte Fassung seiner preisgekrönten und vielgerühmten Novelle ‚Ich fürchte kein Unglück‘ sowie seine neue, bislang unveröffentlichte Erzählung ‚Zur Feier meines Todes‘.
In Iwoleits Erzählungen geht es immer wieder um Aufbrüche in eine posthumane Welt, voller Verheißungen, aber auch voller Schrecken. Seine Figuren sind häufig Wissenschaftler oder Techniker, die an Weggabelungen des Fortschritts mit existenziellen Fragen konfrontiert werden: Was macht den Menschen aus? Was bleibt, wenn die Geschichte über den Menschen, wie wir ihn kennen, hinausgegangen ist?
Die letzten Tage der Ewigkeit
€12,95
Michael Iwoleit – Die letzten Tage der Ewigkeit
Paperback, 256 Seiten
ISBN 978-3-938-06583-9
Kategorie: Science Fiction allg. Reihe
Schlagwörter: Michael Iwoleit, Science Fiction
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Der Schattenmann
Mir war klar, dass es mich irgendwann erwischen musste. Doch ich hätte nie gedacht, wie schrecklich es sein könnte, einen Anschlag zu überleben. Was von mir übrig ist, liegt seit vier Tagen in der trüben Brühe eines Inkubatortanks. Ich bin nur noch ein Bündel aus Adern, Sehnen und Fleischfetzen, doch selbst das ist weit mehr, als sich auf eine vernünftige Weise erklären lässt. Ein Dissolver ist eine schrecklich gründliche Waffe. Nach einem Schuss sollte nichts übrig sein, was sich fragen kann, wieso es noch lebt. Ich habe aber nicht einmal Schmerzen.
Als ich auf der Intensivstation erwachte, erinnerte ich mich sofort an den Abend im Hotel Pergamon. Ich litt weder unter Gedächtnisverlust noch Desorientierung. Und ich begriff schnell, dass die Flüssigkeit, in der ich schwamm, nur das Nährserum in einem Inkubatortank sein konnte. Es war mir ein völliges Rätsel, wie ich überlebt hatte. Der Dissolver war zwei Handbreit vor meinem Gesicht abgefeuert worden und hätte alle organische Materie in einem Radius von acht Metern atomisieren müssen. Doch soweit ich erkennen konnte, hatte etwa ein Drittel meiner Körpersubstanz, eine Seite des Torsos, ein Beinstumpf und der Schädel, der Entladung widerstanden. Unter normalen Umständen nicht einmal genug, um in einem Tank zu überleben. Doch ich lebe immer noch, und das eigentlich Furchtbare daran ist, dass ich geistig völlig klar bin.
Die dumpfen Stimmen draußen und die vielen verschwommenen Gestalten, die meinen Tank umwimmeln, lassen mich ahnen, welche Aufregung die absurde Weigerung meiner Überreste, doch endlich zu sterben, ausgelöst haben muss. Ein Tank ist ein autonomes Sys-tem, und wenn sich erst seine Sonden und Sensoren in den Schwerverletzten gebohrt und die wattigen Flocken im Serum damit angefangen haben, seine Wunden mit künstlichem Gewebe zu flicken, bleibt auch den ausgebufftesten Biotechnikern nichts mehr, außer zu warten. Ist ein Patient nicht nach spätestens einer Woche rosig wie ein Säugling und erschöpft dem Tank entstiegen, hat er keine Chance mehr, und das Gerät entsorgt seine sterblichen Überreste.
In meinem Fall lösten sich die Schläuche, Kapillaren und Glas-fasern schon nach einem Tag, und die Zellkulturen, die mich umhüllt hatten, verfärbten sich wie fauliges Fruchtfleisch. Ich nutzte die Zeit, die ich noch zu haben glaubte, für einen melancholischen Rückblick auf meine Karriere als Schattenmann und bedauerte vor allem, dass ich nie erfahren würde, welcher Kerl mich überlistet hatte. Doch ich wartete umsonst auf den Moment meines Todes. Ich habe ein Loch in der Brust, wo mein Herz sein sollte, und bin von allen Lebenserhaltungsanlagen abgetrennt. Es gibt keine Erklärung dafür, warum mein Hirn weiter funktioniert wie ein Computer, der nicht abgeschaltet werden will. Heute habe ich entdeckt, dass ich mich sogar wieder bewegen kann.
Mein letzter Auftrag als Schattenmann begann vor einer Woche mit einem allzu frühen Anruf aus der Zentrale. Ich ruhte gerade im Rehazentrum von den beiden letzten Einsätzen aus, aber man gönnte mir mal wieder die wenigen Tage nicht, die ich am Tropf und mit deaktivierten Implantaten im subtropischen Ambiente einer Rehalounge verbringen wollte. Mein notorisch schlecht gelaunter Chef, der sich ohne Ankündigung über meinen Holokubus meldete, machte wie üblich nicht einmal den Versuch, sich zu entschuldigen. »Du kannst nächste Woche wieder auf der faulen Haut liegen«, sagte er. »Es ist mir schleierhaft, warum, aber dieser Arach hat einen Narren an dir gefressen. Er besteht darauf, dass du seine Präsentation im Hotel Pergamon überwachst. Ich stelle dich gleich zu ihm durch.«
Es war genau die Art von unangenehmer Überraschung, die ich befürchtet hatte. Ich hätte lieber ein Rudel paranoider Netzspekulanten aus ihren Privatfestungen in der Vorstadt durch die schlimms-ten Lokale der Dealer- und Crackerszene gelotst, als für einen Klienten wie Arach meine Reha zu unterbrechen. »Warum habe ich die letzten vier Male, als mich dieser Kerl engagiert hat, nicht einen Fehler gemacht?«, fragte ich. »Warum habe ich jedes Mal auch die gemeinsten Tricks durchschaut und ihm am Ende doch den Arsch gerettet? Erklär mir das.«
»Ein gewöhnlicher Trottel macht dauernd Fehler«, sagte mein Chef. »Du bist ein viel größerer Trottel, weil du keine machst.«
»Ich weiß, ich bin der Beste. Das ist mein Fluch.« Und nach einem Seufzer: »Also, bringen wir’s hinter uns.«
Als Arachs Live-Hologramm das Gesicht meines Chefs im Kubus ersetzte, hatte ich Mühe, cool zu bleiben. Man hat in meinem Job Umgang mit den absonderlichsten Exzentrikern, aber Arach stellte einen perversen Höhepunkt in dem Bestreben dar, über alle biologischen und zeitlichen Grenzen hinweg an der Macht zu bleiben. Die wenigsten wussten, seit wie vielen Jahrzehnten er schon eine der fettesten Spinnen im Netz war, dessen Unternehmen alle maßgeblichen Toplevel-Domänen in Europa verwalteten und den Datenfluss auf siebzig Prozent der großen Satelliten- und Glasfaser-Backbones steuerten. Es war mir immer unangenehm geblieben, in sein längst vollends künstliches Gesicht zu sehen.
»Ich weiß ja, dass ich Ihnen Unmögliches abverlange«, setzte er mir gleich in diesem jovialen Ton zu, der widerlicher als die obs-zönste Beleidigung klang. »Aber ich weiß einfach keinen anderen, dem ich diese Aufgabe anvertrauen könnte.« Arach rühmte sich, dass bei ihm nur die neusten bio- und nanotechnischen Verfahren zum Einsatz kamen. Wenn man ihm ins Gesicht sah, glaubte man, es unter der pergamentartigen Haut wie in einem Insektennest wimmeln zu sehen. Myriaden künstlicher Mikroorganismen besserten ständig seinen greisen Leib aus, der sonst längst zu Staub zerfallen wäre, bohrten verkalkte Adern auf, ersetzten natürliches Gewebe durch künstliches, vertilgten Schlacken und Gifte. Arach hatte sich als einer der ersten ausgefallene Hirnregionen durch künstliche neuronale Netzwerkmodule ersetzen lassen, die mit seiner Privatdomäne in Verbindung standen. Auf diese Weise konnten nicht nur externe Speicher- und Verarbeitungskapazitäten genutzt werden, um seine Persönlichkeitsstruktur zu erhalten, sondern seine Fähigkeiten um unbegrenzte Gedächtnis- und Assoziationsleistungen erweitert werden. Inzwischen galt es unter denen, die es sich leisten konnten, als selbstverständlich, sich ähnlich aufrüsten zu lassen.
»Ich bin schon so gut wie da«, sagte ich betont nüchtern. »Sagen Sie mir nur, was stattfindet. Wenn nichts Außergewöhnliches vorliegt, treffe ich die üblichen Sicherheitsvorkehrungen.«
»Es wird der außergewöhnlichste Einsatz, den Sie je hatten«, erklärte er. »Ich brauche das Beste, was Sie mir geben können, und das auf ganz neuem Niveau.« Etwas in der Art behauptete er stets. Er hätte noch hundert Jahre weiterleben und nicht ein einziges Mal eingestehen können, dass er auch einmal etwas Triviales oder Unbedeutendes tat. Ich hatte mich immer gefragt, warum er nicht gleich eine Sondernachricht durchs Netz schickte, wenn er zu Hause aufs Scheißhaus ging. »Achten Sie besonders darauf, was tatsächlich geschehen und was nur eine Illusion sein wird«, fügte er hinzu. »Es wird im Ernstfall darauf ankommen, dass Sie diesen Unterschied erkennen.«
Einige Stunden später hatte ich bereits die unangenehme Prozedur der Reaktivierung hinter mir und überwachte die Verhängung einer Datenquarantäne über den Großen Saal im Hotel Pergamon. Der Saal befand sich im neuen, von Arach gesponserten nördlichen Anbau dieses unüberschaubaren Gebäudekomplexes, der inzwischen ein Achtel des Stadtkerns durchwuchert hatte und der Bezeichnung Hotel nicht mehr gerecht wurde. Es war die exklusive Unterkunft einiger hundert Top-Absahner, denen es nicht genügte, in dreihundert Quadratmeter großen Suiten zu residieren, sondern die sich auch gleich mit eigenen Konferenzräumen, Multimedia-Auditorien, Rechenzentren und einer entsprechenden Armada von Personal umgaben.
Ich brauchte vierzig Stunden, um die Kommunikations-Infrastruktur des Saals zu isolieren und alle Verbindungen zur Außenwelt über von mir installierte Firewalls umzurouten. Weitere zwanzig Stunden beanspruchte die Dekontamination des gesamten für die Veranstaltung vorgesehenen Inventars, der Belüftung, der Wasser-leitungen und der Nahrungssyntheser, eine undankbare Aufgabe, die man nie mit einem Gefühl der Beruhigung abschließen konnte, weil der Gen- und Nanotechniker-Untergrund ständig neue Methoden austüftelte, um seine mikroskopischen Zeitbomben an den Mann zu bringen. Ohne meine künstlichen Drüsen, die mich mit Designerhormonen und Neuropeptiden vollpumpten, wäre ich zu diesem Zeitpunkt schon zusammengeklappt, aber die eigentliche Arbeit stand mir ja noch bevor. Ich hätte lieber noch einige Stunden meine Horde eitler Spezialisten dirigiert, als mich für neunzig Minuten mit dem Größenwahn eines Kay Arach identifizieren zu müssen, wenn er wieder einmal aller Welt beweisen wollte, dass er noch die Fäden in der Hand hielt.
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