Willkommen auf Aurora

Willkommen auf Aurora

Stig Drau sah, dass Mats Trebert Angst hatte. Nicht die normale Angst. Sie alle waren nervös, kneteten ihre Finger, wippten mit den Füßen oder atmeten alle paar Minuten schwer durch. Mats war weiß wie eine gekalkte Wand. Die Hände des Jungen zitterten, und er atmete flach, fast überhaupt nicht.
»Was ist los?«, fragte Stig so leise wie möglich. Die anderen mussten nicht mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Am wenigsten der Ser-geant.
»Die Klopse …«
Stig schüttelte den Kopf. Die Ausrede akzeptierte er nicht. Sein Blick hielt den anderen fest. Darin war er gut.
»Psi.« Die Antwort kam so leise, als sei sie nicht mehr als ein Seufzer.
Das hatte Stig Drau befürchtet: der vorletzte Einsatz. Man hatte ihnen einen Haufen Mist erzählt über den Planeten. Es waren aber keine schwerbewaffneten Piraten gewesen, die sich da verschanzt hatten und Raumtransporter in eine Umlaufbahn lotsten, um sie auszurauben. Es war nicht mehr gewesen als eine Herde verrückter – nun ja – Künstler, die aus Raumschrott Skulpturen bauten und ähnlich sinnloses Zeug.
Das hatten sie festgestellt, nachdem sie die ganze Truppe über den Haufen geschossen hatten.
»Das war nicht unsere Schuld«, sagte Stig überzeugter, als er sich selbst fühlte.
»Die Kinder …«
Natürlich hatten sie Kinder in ihrer Kommune gehabt, glückliche, sorglose Sonnenkinder.
»Wir haben immer nur einen Versuch.« Was für eine erbärmliche Antwort! Wer auch immer für die Feindaufklärung verantwortlich gewesen war, man hätte ihn sofort erschießen sollen, an Ort und Stelle. »Wir können nicht jedes Mal diskutieren, ob die Zielkoordinaten richtig sind.«
Mats Trebert wurde lebhafter. Statt sich selbst zu zerfleischen, hatte er endlich einen Gegner gefunden. »Menschen schützen und die Rohstoffversorgung der Menschheit sichern – das haben sie uns gesagt. Klingt gut, was?«
Andere Soldaten drehten sich zu ihnen um, aber ihre Gesichter ließen nicht mehr als jene berufsmäßige Aufmerksamkeit erkennen, die allem galt, was irgendwie anders war.
Stig warf dem Jungen einen giftigen Blick zu. »Du hättest dich erkundigen können«, sagte er ohne jedes Mitleid.
Der andere schluckte. Da hatte er seine Schuld wieder ganz für sich. Aber es ging nicht um Schuld oder Unschuld, und es ging nicht um irgendwelche toten Kinder auf Psi. Es ging darum, dass Mats Trebert den bevorstehenden Einsatz durchstand, ohne Mist zu bauen. Dafür war Selbstmitleid eine ganz schlechte Voraussetzung. Mats war nicht der Nabel der Welt. Wenn er die Nerven verlor, konnten die Männer links und rechts von ihm sterben. Besser wäre es, dachte Stig, ihn gleich hier und jetzt bewusstlos zu schlagen, statt dieses Risiko mitzuschleppen.
»Geh aufs Klo«, kommandierte er.
»Was?«
»Wenn du die Scheißerei hast, dann geh aufs Klo, und zwar jetzt. Nachher ist keine Zeit. Du wärst nicht der erste, der sich in die Hosen scheißt, wenn es losgeht. Na los.«
Die anderen Männer im Transporter wandten sich wieder ihren vorigen Beschäftigungen zu, kleinen, stupiden Zeittötern wie Nasebohren oder Herumfuddeln an der Ausrüstung. Verdauungsbeschwerden waren ein Teil der Normalität, nichts, womit man sich beschäftigen musste.
Mats glotzte wie ein Schellfisch, erhob sich aber doch und ging nach hinten.
Autorität ist etwas Schönes, dachte Stig. Er war einer der Ältesten in dieser Truppe, selbst der Sergeant war jünger. Es hatte ihm lediglich an Ehrgeiz und Kriecherei gefehlt für einen geordneten Aufstieg in der Hierarchie. Der Ameisenbär unter den Ameisen zu sein, hatte seine Vorteile. Der Sergeant war einsam …

Kaum war Mats zurück, begann der Sergeant mit der Einsatzbesprechung, die eigentlich ein Einsatzmonolog war. Die Bilder der Aufklärung waren inzwischen da, und ein Luftbild des Planeten Tau-7-IV erschien auf der Bildwand. Es war ein übersichtlicher Planet, der nur an einer einzigen Stelle bewohnt war.
»Unser Zielgebiet«, sagte der Sarge, »ist das da. Es gibt zwei Siedlungen – oben am Hang die Unterkünfte der Mine und unten auf der Ebene die Siedler, die Landwirtschaft betreiben. Am Hang können wir nicht landen, deshalb gehen wir da« – er deutete auf einen Platz neben dem unteren Dorf – »nieder. Die Transporter zwei und drei landen da und da. Südlich und westlich erstrecken sich die Felder. Ich will nicht erleben, dass einer von euch mit schwerem Gerät dort reinfährt oder auch nur rumtrampelt, sonst haben wir die Siedler als zweite Front. Nach Aussagen des Managements betrifft der Konflikt bis jetzt ausschließlich die Minenarbeiter. Das soll so bleiben. Wenn ich einen erwische, der die Siedler schikaniert, ihren Töchtern nachstellt oder sich sonst danebenbenimmt, der kann sich auf was gefasst machen. Klar?«
Er erwartete keine Antwort, aber ein zustimmendes Gemurmel kam auf.
»Die Minenarbeiter haben damit gedroht, die Schächte zuzusprengen, wenn die Maschinen abtransportiert werden. Sie kennen sich aus mit Sprengungen. Das Management hat es trotzdem versucht, und die Bergleute haben gesprengt. Es hat drei Tage gedauert, um die Männer des Demontageteams wieder aus dem Schacht zu kriegen. Tote und Verletzte gab es nicht. Das heißt, der Gegner will eigentlich nicht kämpfen, er will seine Forderungen durchsetzen. Die Männer sind Zivilisten, aber offensichtlich zu allem entschlossen. Das ist positiv und negativ. Positiv: Sie sind ungeübt und schrecken vor direkter Gewalt zurück. Negativ: Sie sind kaum berechenbar. Wir sind hier vor allem als Drohkulisse vorgesehen.«
Der Sergeant warf einen strengen Blick in sein Publikum. Alle Augen hingen an seinen Lippen. Zufrieden fuhr er fort: »Geschossen wird nur in absoluter und eindeutiger Lebensgefahr oder auf ausdrücklichen Befehl. Wenn irgendein Idiot einen Bergmann umschießt, weil ihm die Nerven durchgegangen sind, kann er ein Pulverfass damit hochjagen – beinahe wörtlich. Die Truppe da unten ist trotz allem schwer bewaffnet – für die sind Sprengungen etwas ganz Normales. Wir marschieren auf, richten die Geschütze aus und warten, während das Management verhandelt. Ist das klar?«
Diesmal kam die Frage in scharfem Befehlston, und reflexartig stießen die Männer ein »Jawohl, Sir!« aus.
Damit war die Sache beendet, und alle wendeten sich wieder ihren Stiefeln, ihrer Nase oder sonstigen Nebensächlichkeiten zu.
Stig Drau erhob sich und schlenderte nach vorn, wo er sich halb vorschriftsmäßig aufbaute. »Sarge, der Kleine, Trebert, hat die Scheißerei. Der war heute schon viermal auf der Latrine. Muss irgendwas nicht vertragen haben.«
Es war schwer zu sagen, ob ihm der Sergeant das abnahm. Dass Trebert aussah wie das Leiden Christi, war nicht zu leugnen. Vielleicht war es dem Vorgesetzten ganz recht, einen Vorwand zu haben, um den jungen Burschen aus dem Einsatz rauszuhalten. Er konnte kein Interesse daran haben, dass einer durchdrehte.
»Dann sollte er sich nicht allzu weit vom nächsten Topf entfernen, was? Gut, Trebert und du, ihr übernehmt die Wache am Transporter. Pass auf, dass sich der Glatte benimmt, Drau. Und er soll denen auch nicht in den Weizen scheißen. Klar?«
»Klar, Sarge.« Stig Drau produzierte einen halbherzigen Gruß, ehe er zu seinem Platz zurückkehrte.
Tatsächlich schleppte sich Mats Trebert noch einmal auf die Toilette, ehe sie runter gingen. Zumindest diesen Teil der Angelegenheit schien er kapiert zu haben.
Der Transporter landete, und die Bilder der Außenkameras erschienen auf der Bildwand.
»Das glaub ich nicht«, sagte der Sergeant, und seine ganze Truppe sah hin. Sie glaubten es ebenso wenig. Wie eine gut geölte Mechanik setzten sie sich in Bewegung, schleusten die halbautonomen Systeme aus, die Umweltanalysen vornahmen und eine flexible Deckung aufbauten. Die Messwerte waren normal, entsprachen dem Erwarteten. Die Männer ordneten sich zur tausendfach exerzierten Formation, mittelschwere Handfeuerwaffen vorn, dahinter ein mobiler Granatwerfer, dann der Rest der Mannschaft. Ganz hinten die Wachmannschaft: Drau und Trebert.
Schließlich fuhr der Pilot das Schott hoch. Eigentlich hätten die Soldaten unverzüglich vorrücken müssen, aber es kam unerklärlicherweise zu Stockungen. Fast sechs Minuten dauerte es, bis die beiden Wächter schließlich nach draußen schauen konnten. Es war ein seltsamer Anblick.
Unübersehbar, fast erschreckend in seiner Herzlichkeit, blähte sich ein Transparent im leichten Wind: HERZLICH WILLKOMMEN AUF AURORA. Kein Ausrufezeichen. Was da über die sattgrüne Wiese wimmelte, wirkte wie ein Volksfest – Frauen in bunten Kleidern, Kinder mit Fähnchen, Kuchenstände, Blumensträuße, Luftballons. Sie winkten und riefen: »Willkommen, willkommen!« Nur Männer fanden sich nirgends. Kein männliches Wesen über zwölf Jahre war in der Menge zu sehen. Lagen die Männer im Hinterhalt, fragte sich Stig Drau, oder hatten die Siedler nur mit allen Mitteln verhindern wollen, dass die Soldaten sich provoziert fühlten? Das war nicht auszuschließen. Schlechte Nachrichten wie die von Psi verbreiteten sich rasend schnell.
Mats begann zu kichern, mit einem unüberhörbar hysterischen Unterton, und Stig haute ihm den Ellenbogen in die Rippen, ohne hinzusehen. Das Kichern endete in einem erstickten Laut.
Die Frauen stimmten ein Lied an, vielleicht irgendeine moderne Schnulze, vielleicht auch eins dieser absurden Volkslieder, in denen es um Herzallerliebste und Vögelein geht. Es hörte sich ein wenig dünn, aber harmonisch an. Ein süßer, fruchtiger Geruch zog herüber.
Die Soldaten standen in ihrer Formation wie gelähmt. Steinewerfende Bergleute hätten sie weniger beunruhigt als das. Gegen Steine gab es Verteidigungsstrategien.
Schließlich, ehe die Regungslosigkeit peinlich werden konnte, trat der Sergeant vor und dankte den Siedlerfrauen mit warmen Worten für den freundlichen Empfang.
Eine der Frauen, eine kleine, mit kurzen, dunklen Haaren, kam ihm entgegen. Sie lief wie jemand, der Gummistiefel und nasse, klebrige Erde gewöhnt ist. In ihrem hellroten Kleid wirkte sie wie ein Junge in Mutters Stöckelschuhen. Sie lächelte und hielt dem Sergeant ein Brett entgegen, auf dem geschnittenes Brot lag und ein kleines, weißes Salzhäufchen. »Herzlich willkommen auf Aurora«, sagte sie.
In diesem Moment bemerkte Stig Drau eine andere Frau, die ein wenig abseits stand und mit einer Kamera genau auf die symbolische Szene hielt. Das TriVi war schon da, und was immer sie taten, es würde in der nächsten Sekunde in der halben bewohnten Galaxis zu sehen sein. »Scheiße!«
Mats sah ihn fragend an.
»Mach ein höfliches Gesicht«, zischte Stig, »du bist im Fernsehen.«