Grischa Romen hat sich verliebt.
Seine Verlobte Ko Ai ist allerdings eine „illegale Geburt“ und soll aus Prinzip getötet werden. Denn die VOR haben ein massives Übervölkerungsproblem und wollen keine Ausnahme zulassen.
Mark Brandis glaubt den Beteuerungen seines Testpiloten nicht, daß die Gefahr für Ko Ai riesengroß ist und verschuldet dabei ungewollt eine Menschenjagd.
Als Brandis die Gefahr endlich erkennt, tüfteln er und sein Freund Walter Hildebrandt einen Fluchtplan für Ko Ai und Romen aus
(10) Aktenzeichen: Illegal
€12,00
Mark Brandis, Band 10
Paperback, 148 Seiten
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 01
Am 15.6.2077 wurde ich zum Verräter. Ich lieferte dem Department A – jene für die Überwachung von Ausländern zuständige Abteilung des Sicherheitsdienstes – ausgerechnet jene zwei Menschen ans Messer, die mir nach Ruth O’Hara, meiner Frau, die liebsten und teuersten waren: Captain Grischa Romen und seine Verlobte Ko Ai.
In dem Augenblick, als der Strom durch meine Schläfen zu fließen begann und wider meinen Willen die Erinnerung an die Ereignisse heraufbeschwor, die mich seit mehr als einem Monat in Atem hielten, begriff ich, daß ich mich hatte täuschen lassen. Ich war den Häschern in die Falle gegangen.
Der summende Apparat, an den ich gefesselt war, diente nicht, wie man mir zuvor gesagt hatte, der Untersuchung meines Geisteszustandes, um Antwort zu finden auf die Frage, ob ich für meine Handlungen im juristischen Sinne voll verantwortlich war: dieser Apparat war vielmehr – von den Beamten des Departments A geschickt als medizinisches Instrument getarnt – ein gesetzlich verbotener Sententor.
Gelegentlich war es mir bereits zu Ohren gekommen, daß es der Sicherheitsdienst mit dem Dekret aus dem Jahre 2076, dem sogenannten Menschenwürde-Paragraphen, nicht allzu genau nahm, das die Anwendung von Drogen und elektronischem Gerät zur Wahrheitsfindung untersagte – doch da es zwischen meinem Beruf und der Tätigkeit des Sicherheitsdienstes keine Berührungspunkte gab, war mir das, was sich in den Büros, Laboratorien und Kellern dieser Behörde tat, weitgehend gleichgültig gewesen. Im übrigen war ich der Meinung, daß die durch Salomon 76 ausgelöste Katastrophe auch dort unvergessen war.
Die beruhigenden Auskünfte der beiden Beamten, die mich in diesen als Psychiatrie gekennzeichneten Raum begleitet hatten (»Eine Routineuntersuchung, Commander – nur damit es später vor Gericht nicht heißt, Sie hätten ‘ne Meise«), und der Anblick der weißbekittelten Ärzte, die mich in Empfang nahmen, hatten mein Mißtrauen eingeschläfert.
Als der Strom zu fließen begann, kam jeder Protest zu spät. Ich war der Apparatur ausgeliefert – und jeder Versuch, die verfängliche Erinnerung in meinem Gedächtnis zurückzuhalten, blieb vergeblich.
Auf dem Monitor erschienen, zunächst verworren und ungeordnet, die ersten Signale. Das Kontrollbild schien nicht zur Zufriedenheit der anwesenden Ärzte auszufallen. Ich spürte, wie der Stromfluß plötzlich stärker wurde und meinen Widerstand brach.
Ein Computer schaltete sich ein und übernahm die Auswertung. Aus den Signalen wurden gestanzte Zeichen auf einem sich abspulenden Papierband.
Meine Erinnerungen und meine Gedanken gehörten nicht länger mir; meine Privatsphäre, obwohl gesetzlich geschützt und garantiert, war durch Betrug aufgebrochen. Was immer ich von nun an dachte – das Wesentliche wie das Unwesentliche – wurde vom Sententor zu Protokoll genommen.
»So ist es gut, Commander!«, lobte einer der Weißkittel. »Immer hübsch der Reihe nach – und nach Möglichkeit keine Abschweifungen! Das hält nur auf. Beschäftigen wir uns doch zunächst mit dem 5. Mai dieses Jahres! Mir scheint, an diesem Mittwoch hat die ganze Geschichte ihren Anfang genommen ...«
Der Tag begann mit Ärger.
Als ich kurz vor neun Uhr hinaustrat auf das hauseigene Flugdeck, stellte ich fest, daß ich zum Dienst zu spät kommen würde. Ein Heuschreckenschwarm, bestehend aus einem halben Hundert Helikopter aller möglichen Typen und Kennzeichen, hatte sich über Nacht auf der Plattform niedergelassen. Meine Libelle war so hoffnungslos eingekeilt, daß an ein Starten nicht zu denken war.
Vom Flugdeck rief ich das Hotel Metropol an, das die oberen zwanzig Stockwerke des insgesamt hundertsechziggeschossigen Hochhauses belegte, in dem ich seit einigen Wochen eine komfortable Dienstwohnung besaß. Ich brachte meine Beschwerde vor und ergänzte sie durch das Kennzeichen des Helikopters, der dem meinen am nächsten parkte.
Die Dame vom Empfang zog die hübsche Stirn kraus. »Ich verstehe, Commander. Aber ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen da helfen soll. Die Nativa 77 wird uns noch allerhand zu schaffen machen.«
Zumindest besaß ich nun eine Erklärung. In Metropolis hatte der längst fällige Kongreß führender Wissenschaftler und maßgeblicher Politiker zum Thema Geburtenregelung und Ernährung – Nativa 77 – begonnen. Die Drei Vereinigten Kontinente und das assoziierte Australien hatten ihre Vertreter entsandt. Die Hotels quollen über.
»Stellen Sie fest, wem von Ihren Gästen der betreffende Kormoran gehört! Er möchte so freundlich sein, ihn ein paar Schritte zurückzurollen, damit ich starten kann«, bat ich. »Ich nehme an, er hat sich nicht viel dabei gedacht, als er ihn da abstellte.«
»Augenblick!« Die Empfangsdame schob die entsprechende Karte in die Registratur und las vom aufleuchtenden Pult Namen und Zimmernummer des Gastes ab. »Also, Commander – der Kormoran gehört Professor John William Forester aus Kentucky. Aber –«
Ungeduldig unterbrach ich den Redefluß der charmanten Empfangsdame.
»Also dann«, sagte ich, »jagen Sie ihn aus den Federn! Ich gebe diesem Professor Kentucky fünf Minuten Zeit, mir die Piste freizumachen.«
Die junge Dame schluckte.
»Verzeihung, Sir!« sagte sie. »Sie haben mich nicht ausreden lassen. Professor Forester befindet sich nicht mehr im Haus. Wir könnten ihn allenfalls in der Kongreßhalle ausrufen lassen – aber ein Weilchen wird das schon dauern.«
Ich entschied, daß diesen amerikanischen Professor der Teufel holen möge.
»Geben Sie’s auf!« sagte ich. »Ich nehme mir ein Taxi. Die Rechnung dürfen Sie dann Herrn Forester geben.«
Ich schaltete ab und wählte gleich darauf den Flying-Cab-Service. an. Dort bedauerte man. Sämtliche Helikopter wären im Einsatz. Frühestens in einer Stunde könnte ich damit rechnen, abgeholt zu werden. Nativa 77 hielt alles in Atem. Ich gab es auf.
»Wenn ich ein Taxi anfordere«, sagte ich, »dann brauche ich es jetzt!«
Ich nahm die Metro.
Seit man diese – dank der im Calais-Dover-Tunnel gesammelten Erfahrungen – auf den neuesten Stand der Technik gebracht hatte, war sie ein schnelles und zuverlässiges Nahverkehrsmittel. Elektromagnetisch angetrieben, elektronisch gesteuert, sausten die geschoßartigen Zugpakete mit einer Geschwindigkeit von nahezu fünfhundert Kilometern pro Stunde durch das unterirdische Röhrensystem der Stadt, teilten sich an den Kreuzungen und vereinigten sich mit anderen Geschoßpartikeln zu neuen Paketen. Vor der Inbetriebnahme hatte man die Beförderungskapazität der Metro errechnet; diese belief sich auf über dreißig Millionen Fahrgäste pro Tag.
Die Nativa 77 verfolgte mich auch weiterhin; nicht einmal in der Metro war man vor ihr sicher. Stella-TV übertrug die Eröffnungsfeierlichkeit in der Kongreßhalle. Ein Sprecher kommentierte:
»– wird nunmehr der weltweite Versuch unternommen, sowohl in Fragen der Geburtenregelung als auch in jenen der Sicherstellung der Welternährung zu neuen Erkenntnissen und Beschlüssen vorzustoßen. Bekanntlich beträgt die Erdbevölkerung gegenwärtig 14,7 Milliarden Menschen mit einer jährlichen Zuwachsrate von zwei Prozent und einem Verdoppelungsfaktor von fünfunddreißig Jahren. Nahezu drei Viertel der Menschheit, genau 9,8 Milliarden, leben in den Vereinigten Orientalischen Republiken. Damit verglichen, ist die Einwohnerzahl der Venus mit 11,3 Millionen geradezu mikroskopisch klein –«
Der Sprecher fuhr fort, mich mit seinen Zahlen und Statistiken zu langweilen. Ich dachte an meinen bevorstehenden Urlaub, von dem mich nur noch wenige Stunden trennten: zwei Wochen, in denen ich einzig und allein meiner Frau gehören würde. Es wurde auch Zeit.
Ich horchte auf.
»– als ebenso sensationell wie aussichtslos wird der zur Tagesordnung gehörende Antrag des amerikanischen Soziologen Professor John William Forester beurteilt, auf dem Gebiet der Geburtenregelung das VOR-Modell aus dem Jahre 2052 zu übernehmen. Dieses bei uns vielfach als ‚Henker-Paragraph’ bezeichnete Gesetz sieht bekanntlich die zwangsweise Eliminierung illegalen Lebens vor –«
Ich dachte: ein solcher Antrag sähe diesem Professor aus Kentucky ähnlich. Auf dem Gebiet des illegalen Parkens zumindest war er bereits eine Kapazität. Von da bis zu einer Wiederholung des Kindermordes von Bethlehem schien es bei ihm nur ein Schritt zu sein. Im übrigen dürfte er versuchen, sich mit diesem Antrag lediglich wichtig und interessant zu machen. Für diesen fernöstlichen Henkerparagraphen würde er in unserer EAAU kaum Anhänger finden – abgesehen von ein paar Fanatikern und Sadisten, die es überall gab.
Die nächste Meldung der Stella-TV betraf ein Projekt, an dem ich in den kommenden Monaten nicht ganz unbeteiligt bleiben würde.
Das Bild zeigte eine winkende asiatische Delegation.Der Sprecher kommentierte: »Die im Januar dieses Jahres beschlossene Zusammenarbeit zwischen der EAAU und den VOR im Aufbau einer Kette von interplanetarischen Fabriken zur Gewinnung und Ummittlung von Sonnenenergie – kurz ‚Intersolar’ –, mit der die bedrohte Energieversorgung der Erde sichergestellt werden soll, ist in die erste Phase eingetreten. Vor einer knappen Stunde sind auf einer Rampe von VEGA-Metropolis, der bei diesem Projekt federführenden Gesellschaft, jene siebenundfünfzig asiatischen Wissenschaftler, Techniker und Astronauten von Bord gegangen, die bei ‚Intersolar’ mitarbeiten werden. Das VOR-Team wurde begrüßt vom VEGA-Direktor John Harris.«
Der Film zeigte, wie John Harris steif und unbehaglich die Reihe der lächelnden und sich verneigenden Asiaten abging und jedem einzelnen von ihnen die Hand schüttelte – ausgerechnet unser spröder und ewig mißtrauischer John Harris!
Bei dieser Filmszene mußte ich mir ein Lächeln verkneifen. Die höherenorts beschlossene Cooperation mußte ihn hart ankommen: bei allem gespieltem Wohlwollen zeigte sich um seine Lippen ein säuerlicher Zug.
John Harris’ Gefühle freilich waren kein Maßstab. Intersolar war ein gigantisches Projekt, das wie so viele wichtige technische Projekte zu spät beschlossen worden war und nun in Windeseile und ohne Rücksicht auf Kosten in die Tat umgesetzt werden sollte, bevor auf der Erde die Lichter ausgingen. Und der Tag, an dem dies geschehen mußte, stand vor der Tür.
Die Metro würde so ziemlich als erstes Großunternehmen davon betroffen sein.
Als ich die Unterwelt der Transportröhren verließ, um die wenigen Schritte bis zur VEGA-Zentrale zu Fuß zurückzulegen, atmete ich auf. Mir, der ich an die Freiheit unter den Sternen gewohnt war, vermittelte die Metro stets ein unbehagliches Gefühl der Gefangenschaft. Mit dem zwiespältigen Gefühl, daß ich in wenigen Stunden – nach der formellen Übertragung des Kommandos über die Ares I an Captain Romen und einem kurzen Höflichkeitsbesuch bei Direktor Harris – ein freier Mensch sein würde, betrat ich die lichtdurchflutete Empfangshalle des kühn aufragenden, verwegen geschwungenen, von einem der fähigsten finnischen Architekten entworfenen Verwaltungsgebäudes.
Der Urlaub bedeutete für einen überschaubaren Zeitraum Abschied von den Sternen, der mir alles andere als leicht fiel, jedoch ich war Ruth O’Hara dieses Opfer schuldig. Im zurückliegenden Halbjahr war ich gerade einhundertundachtundvierzig Stunden daheim gewesen.
In der Halle empfing mich das übliche Stimmengewirr. Delegationen und Besuchergruppen aus aller Welt wurden von adretten Hostessen mit der Arbeit der VEGA vertraut gemacht. Im Mittelpunkt der Erläuterungen stand – wie nicht anders zu erwarten – das neue, alles beherrschende Raumprojekt Intersolar. Auf zwei großen Projektionsflächen wurden illustrierende Informationen geliefert.
Eine Grafik beschäftigte sich mit dem Raubbau an der Erdwärme; sie wies aus, daß in den letzten vier Jahrzehnten – seit Inbetriebnahme des mit Erdwärme gespeisten Verbundnetzes – die durchschnittliche Erdkrustentemperatur um 0,2 Grad abgesunken war.
Klimatische Veränderungen bahnten sich an.
Eine zweite, bewegliche Grafik veranschaulichte die geplanten Umlaufbahnen der solaren Kraftwerke und gab Auskunft über deren voraussichtliche Kapazität.
Intersolar – das war vorauszusehen – würde uns ein gutes Jahr in Atem halten: angefangen von Direktor Harris, dem die organisatorische und verwaltungstechnische Oberleitung oblag, bis zum letzten Mechaniker. Und es würde nicht nur Geld kosten, sondern auch das Leben vieler am Projekt beteiligter Menschen. Die Eile, mit der das Vorhaben vorangetrieben werden mußte, erhöhte das Risiko.
Ich drückte meinen Ausweis in den Registrator, und eine gläserne Tür fuhr lautlos auf; gleichzeitig setzte sich das Laufband in Bewegung. Vor dem Ares-Trakt sprang ich ab.
Captain Romen wartete bei gedämpfter Violinmusik; er hatte eines seiner bevorzugten Konzerte angewählt.
»Beethoven?« fragte ich. »Hübsch!«
Musikalität war nie meine Stärke gewesen.
Captain Romen wandte mir mißbilligend sein braunes, dunkeläugiges Zigeunergesicht zu.
»Tschaikowski, Commander!« berichtigte er. »Hören Sie sich nur diese Violine an – phantastisch!«
Meines Wissens war Captain Romen der einzige VEGA-Pilot, der sich in seiner Freizeit aktiv mit Musik beschäftigte: meisterlich beherrschte er eine Vielzahl von Instrumenten, darunter die Violine sowie die stets zu seinem Reisegepäck gehörende Mundharmonika.
»Phantastisch!« bestätigte ich und warf gleichzeitig einen Blick auf die Uhr. Ich war spät dran. »Dennoch, Captain, wenn es Ihnen nichts ausmacht, sollten wir das Konzert jetzt abbrechen und dienstlich werden. Harris erwartet mich bereits in einer Viertelstunde, und bis dahin ist noch viel –«
Captain Romen fiel mir ins Wort.
»Sie wollen noch hoch zu Harris, Sir?«
»Nur um mich formell abzumelden«, gab ich Auskunft. »Warum?«
Captain Romens Augen bekamen einen verträumten Glanz. »Wunderbar, Sir!« sagte er. »Dann werden Sie sie kennenlernen.«
Im Gedanken daran, daß die Übertragung des Kommandos eine lästige Prozedur war, runzelte ich die Stirn. Es war, wollte ich mich bei Harris nicht verspäten, höchste Zeit, um zur Sache zu kommen, andererseits wollte ich nicht unhöflich erscheinen.
Darum erkundigte ich mich:
»Wen werde ich kennenlernen?«
Captain Romens Augen leuchteten.
»Ko Ai, Sir!« sagte er. »Sie ist Doktor der Astrophysik und gehört zu diesem VOR-Team. Und soviel ich weiß, ist das ganze Team noch oben beim Alten.«
Um Zeit zu gewinnen, ließ ich ihm den ‚Alten’ ausnahmsweise durchgehen; im allgemeinen legte ich Wert auf korrekte Anreden und Dienstbezeichnungen. Die Disziplin – so meine Erfahrung – äußert sich als erstes in einer genauen Sprache.
»Schön«, sagte ich ohne sonderliches Interesse. »Sie ist Doktor der Astrophysik, und ich werde sie kennenlernen.«
Ich wählte das Flugtechnische Archiv an und drückte mein Code-Zeichen.
»Ihr Name ist Ko Ai!« sagte Captain Romen.
Ich wartete vor dem summenden Apparat auf das Bordbuch.
»Sie wiederholen sich, Captain!« bemerkte ich.
»Ihr Name ist Ko Ai«, sagte Captain Romen noch einmal, »und sie hat mandelförmige Augen, die wie Wellen strahlen, die im Sonnenschein glitzern und tanzend in die Höhe zu springen scheinen, um das duftende Röhricht zu küssen, das die Ufer des Baches säumt. Die Augenbrauen gleichen dem Weidenblatte. Die Wangen sind weiß wie Schnee, durch den ein zartes Rosenrot schimmert. Die Zähne gleichen Perlen, umgeben von Korallenlippen. Das Haar ist schwarz wie Gagat und weich wie Seide. Ihre Gestalt ...«
Ich klatschte das schwere Bordbuch vor ihm auf den Tisch. »Captain«, sagte ich, »für einen Mann, dem ich das Kommando über ein so wertvolles Schiff wie die Ares I zu übergeben die Pflicht habe, spinnen Sie nicht zu knapp!«
Captain Romen war nicht in der Stimmung, um meine Zurechtweisung als Kränkung aufzufassen.
»Was Sie soeben hörten, Sir«, klärte er mich auf, »sind die Worte eines chinesischen Dichters des fünfzehnten Jahrhunderts. Zufällig trifft alles, was er sagt, auf Ko Ai zu. Sie werden sich davon überzeugen können, Sir. Im übrigen ist Ko Ai – sagte ich das schon? – Eurasierin. Ihre Mutter war Russin.«
Ich schlug das Bordbuch auf.
»Artikel Eins, Absatz Drei des Bordrechts, Captain!« sagte ich. »Er lautet: Die zeitweilige Erhebung eines Mitglieds der Besatzung zum Commander bedeutet für dieses die verantwortliche Übernahme aller Rechte und Pflichten ...« Ich brach ab und ließ meinem Unmut freien Lauf. »Ich möchte doch sehr um Ihre Aufmerksamkeit bitten, Captain Romen!«
Captain Romen erwachte wie aus einem Traum. »Wie, Sir?«
»Sie sollen mir zuhören!« sagte ich. »Wo zum Kuckuck sind wir denn hier: in einem Dienstgebäude der VEGA oder auf einem orientalischen Heiratsbasar?«
Captain Romen senkte betroffen das Haupt. »Ich bitte um Verzeihung, Sir. Ich bin heute ein wenig zerstreut.«
»In diesem Fall, Captain, reißen Sie sich zusammen!« wies ich ihn zurecht. »Also, noch einmal von vorn! Der Artikel Eins, Absatz Drei des Bordrechts lautet …«
Captain Romen seufzte tief.
»Sir«, sagte er, »wie waren eigentlich Ihre Gefühle, als Sie Ruth O’Hara kennenlernten? Ich meine, Sir: war Ihnen da auch so nach Singen und Tanzen zumute?«
Ich gab es auf. Kurzentschlossen drehte ich das Bordbuch um und schob es ihm zu. »Unterschreiben Sie, Captain!« sagte ich knapp. »Unterschreiben Sie – und wenn es sich dabei um Ihr eigenes Todesurteil handelt! Aber behaupten Sie später nicht, ich hätte Ihnen das Schiff nicht ordnungsgemäß übergeben!«
Captain Romen nickte.
»Ach so, ja!« sagte er. »Die Ares I! Sie übertragen mir für die Dauer Ihrer Abwesenheit das Kommando, Sir.«
Er griff zum Schreibstift und setzte seine Unterschrift in die dafür vorgesehene Rubrik. Ich klappte das Bordbuch zu. »Im übrigen, Captain«, sagte ich, »was Ihre Frage nach meinen Gefühlen anbetrifft: Erstens bin ich total unmusikalisch, und zweitens verabscheue ich das Tanzen.«
Captain Romen blickte entsetzt.
»Sir«, fragte er, »Sie halten mich doch nicht für verrückt?«
Mein Unmut war bereits am Verrauchen.
Indem Captain Romen mich an Ruth O’Hara erinnerte, hatte er meine empfindsamste Saite berührt. Und nur, um vor ihm nicht vollends das Gesicht eines erzürnten Vorgesetzten zu verlieren, gab ich zurück: »Schlimmer, Captain. Ich halte Sie für verliebt.«
Ich machte, daß ich davonkam, bevor Captain Romen erneut zu schwärmen begann. Außerdem wollte ich wenigstens bei Harris, der ein Zeitfanatiker war, pünktlich sein.
Der Lift beförderte mich zum Direktionstrakt im fünfunddreißigsten Stock. Harris’ Sekretärin, Miß Annegret Sauerlein, eine unscheinbare graue Maus mit dicker Hornbrille, warf mir einen gequälten Blick zu, bevor sie mich passieren ließ.
»Sie werden verstehen, Commander, daß der Direktor nur wenig Zeit hat. Diese Delegation hat ihn völlig mit Beschlag belegt.«
Ich trat ein.
Das gesamte VOR-Team war im großen, getäfelten und abhörsicheren Konferenzzimmer versammelt. Auf dem Tisch standen Reste eines kalten Büffets und leere Champagnerflaschen.
Zu meinem Erstaunen unterhielt sich John Harris höchst angeregt und leutselig mit einem Delegationsmitglied, wobei er mir den Rücken zuwandte. Ich hörte ihn, der sonst so gut wie nie ein persönliches Wort über die Lippen brachte, scherzen und lachen.
Ich trat hinzu. Harris unterbrach sich.
»Sir!« sagte ich. »Ich möchte mich, ohne groß zu stören, bei Ihnen für die Dauer meines Urlaubs in aller Form abmelden und mich zugleich persönlich von Ihnen verabschieden.«
John Harris wandte sich mir zu und trat ein wenig zur Seite – und plötzlich hatte ich nur noch Augen für das Delegationsmitglied, mit dem er sich soeben noch unterhalten hatte. Dieses Delegationsmitglied lächelte – und die Zähne glichen Perlen, umgeben von Korallenlippen. Die Wangen waren weiß wie Schnee, durch die ein zartes Rosenrot ...
»Commander Brandis«, hörte ich John Harris sagen, »darf ich Sie bekanntmachen mit Miß Ko Ai, unserer charmanten Beraterin in Fragen der Astrophysik?«
Teufel! dachte ich. Captain Romen, dieser verflixte Zigeuner, hat tatsächlich recht!
Und ich beugte mich über die schmale, anmutige Hand, die Ko Ai mir entgegenstreckte.
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