Mark Brandis und die Crew des Raumschiffs Delta VII sind heimatlos geworden. Durch die Schergen der Reinigenden Flamme verfolgt, fasst Brandis einen folgenreichen Entschluss. Als letzten möglichen Verbündeten gegen den General will er die Asiatischen Republiken gewinnen.
Er spürt ein Kurierschiff des alten „Erbfeindes“ der Union auf und zwingt den Piloten, ihn nach Peking zu bringen. Doch der mutige Alleingang endet verhängnisvoll. Niemand glaubt ihm, dass er nicht als Spion aus dem Weltraum kam.
(3) Unternehmen Delphin
€6,99
Mark Brandis, Band 03
Ebook, 185 Seiten, Format Epub
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 01
In der samtenen Schwärze des Raumes wirkte das fremde Schiff wie ein Stern unter Sternen: ein kleiner heller Punkt, der scheinbar feststand. In Wirklichkeit bewegte er sich mit einer Geschwindigkeit von 75800 Kilometern pro Stunde durch den Raum. Als ich ihn einmal aus den Augen verlor, während ich die Instrumente vor mir kontrollierte, hatte ich Mühe, ihn wiederzufinden; und ihm so unerbittlich zu folgen, wie ich es tat, wäre mir ohne Hilfe des Bordcomputers nicht möglich gewesen.
In unregelmäßigen Abständen verwandelte sich der glühende Stecknadelkopf urplötzlich in eine gleißende Spiegelfläche – immer dann, wenn bei seinen verzweifelten Versuchen, uns abzuschütteln, die seitlichen Cockpitfenster voll in das durch nichts gebrochene Licht der Sonne gerieten. Das Hakenschlagen nutzte ihm nichts. Er konnte uns so wenig entkommen wie ein Fisch im Aquarium dem Kescher. Delta VII war ihm an Geschwindigkeit um ein Vielfaches überlegen, und der radargesteuerte Computer sorgte dafür, daß Kurs und Abstand der beiden Schiffe stets gleich blieben.
Seit einer Viertelstunde schrie der flüchtende Stern mit blecherner Stimme um Hilfe.
Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung dicht neben mir. Ich wendete den Kopf zur Seite: Mark Brandis, der Commander, hatte das Cockpit wieder betreten und seinen Platz eingenommen.
»Lieutenant Stroganow!«
»Sir!« Die Stimme des Navigators klang belegt. Der grauhaarige Sibiriak mit den breiten, muskulösen Schultern stand unter der gleichen Hochspannung wie ich. Zum erstenmal, seitdem ich vor achtzehn Tagen infolge einer Sonderkommandierung des Rats für innere und äußere Sicherheit der damals noch unabhängigen Republik Venus als Pilot an Bord dieses Schiffes gekommen war, erlebte ich, daß auch Iwan Stroganow, dieser Veteran der Raumfahrt, nervös sein konnte.
»Können Sie was von diesem Gezeter verstehen?«
»Nein, Sir. Ich halte es für Chinesisch.«
Commander Brandis neigte – wie um zu bestätigen, daß er der gleichen Ansicht war – kaum merklich den Kopf, und ohne daß ich so recht wußte warum, empörten mich sein Gleichmut und seine unerschütterbare Ruhe. Für den Gedanken, daß er im Begriff war, uns alle verfügbaren Kampfschiffe der VOR – der Vereinigten Orientalischen Republiken – an die Fersen zu heften, schien in seiner Vorstellungswelt kein Raum zu sein – oder aber er setzte sich ganz einfach darüber hinweg.
»Ich glaube«, sagte er, »ich habe das Schiff erkannt. Es handelt sich um die Lotus, ein leichtbewaffnetes Kurierschiff der Mao-Klasse. Ich bin mir dessen ziemlich sicher.« Commander Brandis drehte sich auf seinem schwenkbaren Sitz in meine Richtung. »Ich möchte, daß Sie längsseits gehen, Captain.«
Obwohl ich geahnt und befürchtet hatte, daß dies auf mich zukommen würde, muß ich wohl gezögert haben, denn Commander Brandis zog plötzlich die Brauen hoch, und seine blauen Augen blickten frostig. »Das ist ein Befehl, Captain Monnier!«
In jedem anderen Fall hätte ich auf Anhieb gehorcht, doch dies war eine Situation besonderer Art. Ich dachte an die Folgen dieses Befehls, der ja nichts anderes war als ein unverhüllter kriegerischer Akt gegenüber einem Schiff der VOR – und dies ausgerechnet zu einer Zeit, in der wir an Bord von Delta VII die Unterstützung Pekings dringend benötigten.
Zweihundertzweiundvierzig Tage waren vergangen, seitdem sich General Gordon B. Smith, der Mann aus Texas, die EAAU – die Europäisch-Amerikanisch-Afrikanische Union – unterworfen hatte, und nur knapp zwei Wochen waren vergangen, seitdem er im Zusammenspiel mit dem verräterischen Colonel Larriand, Befehlshaber der Strategischen Raumflotte Venus, auch die Republik Venus, für ein halbes Jahr letztes Bollwerk demokratischer Freiheit, in seinen Machtbereich eingegliedert hatte. Die erbarmungsloseste Diktatur, die es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hatte, erstreckte sich über den halben Erdball und umfaßte gleichzeitig die Hälfte des erforschten Weltalls. Die VOR – an ihrer Spitze China, das sich von der verheerenden Niederlage im zweiten Sowjetisch-Chinesischen Krieg längst erholt hatte – bildeten das einzige Gegengewicht. Seit der Machtergreifung durch den General im Zeichen der Reinigenden Flamme war die Spannung zwischen den beiden Machtblöcken, die sich ohnehin nie sehr freundschaftlich gegenübergestanden waren, unablässig gewachsen. Die politische und mithin auch militärische Lage war äußerst explosiv.
Auf einmal entlud sich meine ganze Erbitterung. »Sir«, sagte ich so höflich und ruhig, wie es mir möglich war, wenn meine Stimme dabei auch zitterte, »ist es Ihnen klar, daß die VOR eine solche Herausforderung kaum hinnehmen werden? Ich denke dabei weniger an uns, sondern an die EAAU. Die Herrschaft des Generals ist sicher unmenschlich, aber ein Gegenschlag der VOR würde unzählige Millionen unschuldiger Menschen treffen.«
Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in meiner Beurteilung von Commander Brandis‘ menschlichen und fachlichen Fähigkeiten und Eigenschaften noch sehr im Widerstreit der Gefühle.
Einerseits hatte ich ihn in den vergangenen achtzehn Tagen als einen besonnenen Mann kennengelernt, der auch in Augenblicken höchster Gefahr nie den Kopf verlor. Auch wenn unser Auftrag auf dem Mond – ein letzter Versuch, den Untergang der unabhängigen Republik Venus aufzuhalten – gescheitert war, hatte er, der Zivilist, nicht nur vermocht, unser kostbares Schiff, den Prototyp Delta VII, dem Zugriff des Generals zu entziehen, sondern er hatte darüber hinaus damit auch bereits eine Anzahl empfindlicher Schläge gegen die neuen Machthaber ausgeteilt. Andererseits war da im Hintergrund meiner Erinnerungen das noch nicht völlig getilgte Bild eines katastrophalen Fehlstarts, für den Brandis die volle Verantwortung trug. Das war jetzt viele Jahre her, und unter dem Druck der Ereignisse hatte ich nach anfänglichem Widerstreben mit ihm, wenigstens nach außen hin, meinen Frieden gemacht. Aber das änderte nichts an dem Umstand, daß ich in meinen Träumen Gordon noch immer schreien hörte, während die gierigen Flammen nach ihm griffen. Dieser Vorfall im Zusammenhang mit der Suche nach der im Raum verschollenen Expedition des Colonels Rublew hatte zu Brandis‘ Degradierung geführt und ihn um Jahre in seiner Karriere zurückgeworfen. Nun war er zum zweiten Mal Commander, und ich hatte zu gehorchen.
Ich war, als ich mich zum Widerspruch aufraffte, darauf gefaßt gewesen, mir eine ernsthafte Zurechtweisung einzuhandeln, aber Commander Brandis antwortete auf eine Art und Weise, die meiner unbedachten Auflehnung die Waffen aus der Hand schlug.
»Rob«, sagte er – und der freundschaftliche Klang seiner Stimme war nicht nur vorgetäuscht, »vielleicht hilft es dir, wenn wir die Sachlage einmal gemeinsam überdenken. Und wenn ich dies jetzt zur Sprache bringe, möchte ich, daß auch Lieutenant Stroganow und Lieutenant Ibaka nicht ausgeschlossen bleiben. Können Sie mich hören, Lieutenant Ibaka?«
»Ja, Sir.« Antoine Ibakas, des Bordingenieurs, schwarzes Gesicht war völlig ausdruckslos – jedenfalls vermochte ich nichts darin zu lesen. Ibaka stammte aus dem Kongo. Anfangs hatte mich das befangen gemacht; mittlerweile jedoch wußte ich, daß er der tüchtigste Bordingenieur war, dem ich bis zu diesem Zeitpunkt begegnet war.
Commander Brandis‘ Blick ruhte bereits wieder auf dem Radarschirm, auf dem nur das flüchtende VOR-Schiff wahrzunehmen war. Es hatte erneut eine Kurskorrektur vorgenommen; offenbar versuchte es nunmehr, sich in den Schutz einer herbeieilenden Raumpatrouille zu retten.
»Die Sachlage!« sagte Commander Brandis. »Seit drei Tagen sind wir im Besitz von Dokumenten, aus denen einwandfrei hervorgeht, wann und wie der General die VOR angreifen wird. Stimmt das?«
Die Frage war an mich gerichtet, und meine Antwort war klar. Die Dokumente stammten aus einem von uns aufgebrachten Kurierschiff der Division Venus.
»Stimmt, Sir«, sagte ich.
Commander Brandis fuhr fort, die Radaranzeige zu beobachten. Sein Gesicht wirkte sehr angespannt, seine Stimme klang nüchtern und kühl, fast spröde.
»Mein erster Gedanke war, in Peking zu landen – einmal um die Regierung der VOR vor dem bevorstehenden Angriff zu warnen, zum zweiten aber auch, um sie von der Notwendigkeit eines gemeinsamen Unternehmens gegen den General zu überzeugen. Von diesem Plan bin ich inzwischen abgerückt. Er birgt die Gefahr in sich, daß die VOR unser Schiff – Delta VII – als willkommene Zugabe betrachten würde. Oder sehen Sie, Captain Monnier, die Sachlage anders?«
Erneut hatte mich Commander Brandis in die Verteidigung gedrängt. Seine Überlegung war hieb- und stichfest. Beim besten Willen konnte ich ihm nicht widersprechen. »Sie haben recht, Sir.«
Commander Brandis schwenkte plötzlich zu mir herum. »Somit stehen wir jetzt vor dem Problem, daß ich ohne nennenswerten Zeitverlust über ein Transportmittel verfügen muß, mit dem ich samt meiner Botschaft nach Peking gelangen kann, ohne Delta VII aufs Spiel zu setzen.«
Fast schien es mir, einen Schimmer von Spott in seinen Augen zu sehen, während er mich Schritt für Schritt ausmanövrierte.
»Auch das, Sir«, sagte ich widerstrebend, »hat seine Richtigkeit.«
Commander Brandis‘ Zeigefinger stieß plötzlich wie ein Pfeil auf den Lichtpunkt, der sich auf dem Radarschirm abzeichnete. »Nun«, sagte er, »da haben wir das Transportmittel! Ein VOR-Schiff. Es wird mich direkt nach Peking bringen.«
»Sie, Sir?« fragte ich entgeistert. »Aber Sie sind doch der Commander!«
Ein Hauch von Ungeduld lag auf einmal in Commander Brandis‘ folgenden Worten. »Sie, Captain, sind befähigt genug, mich für die Dauer meiner Abwesenheit an Bord zu vertreten. Und nun führen Sie endlich meinen Befehl aus!«
Meine Auflehnung war damit beendet. Ich hatte ihre Unsinnigkeit erkannt. »Aye, aye, Sir!« Ich wandte mich an Stroganow. »Lieutenant, Einholen genügt. Den Rest besorge ich selbst.«
»Aye, aye, Sir«, sagte auch Lieutenant Stroganow.
Mit Hilfe des Computers und unter Einsatz von 10500 Tonnen Schubkraft war es für Delta VII ein Leichtes, den hakenschlagenden Flüchtling einzuholen. Vier Minuten und dreizehn Sekunden nachdem ich die 5300 Tonnen Masse auf volle Leistung beschleunigt hatte, war ich bereits genötigt, die Automatik auszuschalten und die Handsteuerung in Betrieb zu nehmen. Wir hatten uns dem VOR-Schiff auf Gefechtsentfernung genähert.
Es handelte sich, wie Commander Brandis ganz richtig vermutet hatte, um die Lotus aus der Mao-Klasse, ein stumpfnäsiges, walförmig konstruiertes Schiff, an Geschwindigkeit und Reichweite etwa zu vergleichen mit einem der üblichen Taurus-Zerstörer, jedoch im Gegensatz zu diesem nur leicht bewaffnet. Selbst auf die Entfernung hin konnte man auf dem gelben Rumpf das Zeichen der VOR erkennen: zwei flammenrote gekrümmte Mongolenschwerter.
Commander Brandis wählte die von den Streitkräften der VOR üblicherweise benutzte Funkfrequenz und beugte sich über das Mikrophon.
»Delta VII an Lotus. Hier spricht Commander Brandis. Unsere Annäherung bedeutet keinen Angriff! Ich wiederhole: Unsere Annäherung bedeutet keinen Angriff! Drehen Sie bei und übernehmen Sie einen Passagier mit einer wichtigen Botschaft für Peking!«
Von der Lotus kam keine Antwort, und ich glaube heute nicht einmal, daß Commander Brandis ernsthaft damit gerechnet hatte. Die Lotus schlug wieder einen Haken, immer noch bestrebt, sich irgendwohin in Sicherheit zu bringen.
Wohin, das wurde uns allen schlagartig klar, als Lieutenant Stroganows Stimme plötzlich durch das Cockpit hallte: »Navigator an Commander: Radarkontakt, Sir! Kampfschiffe im Formationsflug auf Kollisionskurs!«
Commander Brandis‘ Blick sprang hinüber zum anderen Radarschirm. Er brauchte kaum mehr als eine Sekunde, um sich auf die neue Lage einzustellen. »Danke, Lieutenant. Was sagt der Computer?«
»Kollision in vier Minuten siebzehn Sekunden, Gefechtsentfernung in drei Minuten vier Sekunden!«
»Danke, Lieutenant.« Commander Brandis beugte sich bereits wieder über das Mikrophon. »Delta VII an Lotus. Drehen Sie sofort bei, oder ich eröffne das Feuer!« Er wandte ein wenig den Kopf. »Lieutenant Ibaka, meinen Raumanzug!«
»Aye, aye, Sir!« Ibaka verließ seinen Platz und eilte in den Vorratsraum.
Die Lotus hatte derweilen einen Kurs eingeschlagen, der sie der nahenden VOR-Flotte unmittelbar entgegenführte. Später habe ich mir wiederholt die Frage vorgelegt, ob ich an Stelle von Commander Brandis die Kaltblütigkeit besessen hätte, an diesem Punkt die Aktion nicht kurzerhand abzubrechen. In weniger als drei Minuten mußten wir uns mitten im Feuer der VOR-Kampfschiffe befinden. »Sir«, sagte ich, »es ist höchste Zeit zum Abdrehen!«
»Ich habe Sie nicht gefragt, Captain!« sagte Commander Brandis mit unerwarteter Schärfe.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht ernsthaft damit gerechnet, daß er diesen Zwischenfall auf die Spitze treiben würde. Nun wurde ich eines anderen belehrt. Ein leises Zittern ging durch den schlanken Leib von Delta VII. Die leichten Waffen hatten das Feuer eröffnet. Auf die knappe Entfernung hin war dies verheerend genug. Drüben auf der Lotus zeigten sich die ersten braunen Beulen und Blasen.
»Lotus an Delta VII!« Gestochen scharf kam die Stimme des chinesischen Piloten aus unserem Lautsprecher. »Wir drehen bei.«
Commander Brandis warf die Gurte los und stand auf. »Lieutenant Ibaka, den Anzug!«
»Zur Stelle, Sir!« Ibaka hielt dem Commander den Anzug hin, und dieser schlüpfte in die Kombination.
»Lieutenant Stroganow, wie steht es mit der Zeit?«
»Noch knapp zwei Minuten, Sir.«
Commander Brandis nickte. »Das genügt.« Er griff nach dem Helm. »Captain, Sie überwachen in den folgenden Tagen die VOR-Frequenzen! Wann und wo Sie mich wieder an Bord nehmen sollen, werde ich Ihnen rechtzeitig bekanntgeben. Achten Sie auf das Kennwort« – Commander Brandis dachte einen Augenblick lang nach – »auf das Kennwort Heimweh. Sollte ich mich innerhalb von sechsunddreißig Stunden nicht gemeldet haben, ist mit meiner Rückkehr nicht mehr zu rechnen. In diesem Fall betrachten Sie sich als rechtmäßigen Commander.«
Ich hatte die Fahrt aus dem Schiff genommen. Durch das Cockpitfenster konnte ich die gelbe Bordwand der Lotus sehen, nur wenige Armlängen von mir entfernt. Seite an Seite trieben die beiden Schiffe dahin.
»Aye, aye, Sir«, sagte ich. Und gleich darauf, einer plötzlichen Regung nachgebend, fügte ich hinzu: »Sir, wir verlassen uns darauf, daß Sie zurückkehren.«
Ein geringfügiger Fahrtunterschied war verblieben. Zoll um Zoll schob sich Delta VII an der Lotus vorbei. Deren Cockpit tauchte neben mir auf, und ich sah das maskenhafte Gesicht des fremden Piloten.
Commander Brandis schob sich die erbeutete Dokumentenmappe unter die Kombination. »Sobald ich von Bord gegangen bin, drehen Sie unverzüglich ab, Captain. Gleich, was geschieht! Ist das klar?«
»Aye, aye, Sir!« sagte ich gepreßt.
Drüben auf der Lotus war man bereit, den Passagier, von dem Commander Brandis gesprochen hatte, an Bord zu nehmen. Die Schleuse schwang langsam auf. Einen Herzschlag lang war ich versucht, mich in die Lage des fremden Piloten zu versetzen. Es war kaum anzunehmen, daß er die Situation übersah. Auf mich hatte er einen verwirrten, ratlosen Eindruck gemacht. Vielleicht wäre es mir an seiner Stelle nicht viel anders ergangen.
Ich warf einen Blick auf die Radarschirme. Die Anzeige war klar und deutlich. Insgesamt waren es zwölf Kampfschiffe, die auf uns zuhielten, und die Geschwindigkeit ihrer Annäherung ließ darauf schließen, daß es sich um Schwere Kreuzer des neuen Ho-Tschi-Minh-Typs handelte, jenes Typs also, mit dem das Andenken an den alten und listenreichen Guerillaführer aus der Zeit der Indochinakriege in Ehren gehalten wurde. Persönlich hatte ich mit ihm noch keine Erfahrungen gemacht, aber aus allen Berichten unserer Aufklärung, die mir vorgelegen hatten, als ich noch bei der Strategischen Raumflotte Dienst tat, ging hervor, daß den chinesischen Konstrukteuren mit diesem Typ der große Wurf gelungen war: Die Kreuzer waren schnell, wendig und schwer bestückt – und sie waren in der Lage, genug Treibstoff an Bord zu nehmen, um allen vergleichbaren Kampfschiffen der EAAU – von Delta VII abgesehen – zumindest ebenbürtig zu sein, was den Aktionsradius anbetraf. Die Zahlenangabe, die der Computer auf den Radarschirm einblendete, veränderte sich unaufhaltsam in der Null-Richtung. Als ich den Blick vom Radarschirm löste, verblieben uns noch sechsundneunzig Sekunden.
»Meine Herren«, Commander Brandis wandte sich dem Ausstieg zu, »ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg.«
Ibaka entsicherte die Schleuse und drückte auf den Knopf. Commander Brandis klappte den Helm zu und entschwand meinen Blicken.
»Sir, der Commander ist soeben von Bord gegangen.«
Ibakas Meldung war an mich gerichtet. »Danke, Lieutenant. Fahren Sie die Schleuse zu und begeben Sie sich auf Ihren Platz. Ich führe einen Alarmstart durch.«
»Aye, aye, Sir.«
In achtzig Sekunden mußte sich Delta VII unweigerlich im Feuerbereich der VOR-Kreuzer befinden. Die Zeit wurde kostbar. Der Fahrtüberschuß der Ho-Tschi-Minhs wurde allmählich bedenklich.
Vorsichtig schwenkte ich den Bug von Delta VII so weit herum, daß Commander Brandis in mein Blickfeld geriet. Er hatte den leichten Treibsatz gezündet, der zur Kombination gehörte, und schwebte auf den geöffneten Einstieg der Lotus zu. Solange er darin nicht entschwunden war, mußte ich mit dem Alarmstart warten.
Ibaka kehrte auf seinen Platz zurück. »Schleuse geschlossen und gesichert, Sir.«
»Danke.«
Danke, das war keine leere Höflichkeit, sondern eine unumgängliche Bestätigung. Eine Meldung, die nicht zur Kenntnis genommen wurde, war wenig wert. Erst die Bestätigung enthob den Meldenden der Pflicht, die Meldung zu wiederholen.
Ich überzeugte mich davon, daß Ibaka seine Gurte anlegte, warf erneut einen raschen Blick auf den Radarschirm, nahm in mich auf, daß die uns verbleibende Galgenfrist auf zweiundsechzig Sekunden geschrumpft war, und konzentrierte meine Aufmerksamkeit wieder auf Commander Brandis, der noch immer im leeren Raum schwebte. Irgendetwas war mit dem Treibsatz nicht in Ordnung, und der Commander schien Schwierigkeiten zu haben, den Einstieg der Lotus anzusteuern. Dort im Einstieg stand jetzt einer von der Lotus-Besatzung bereit, um ihm im entscheidenden Augenblick die helfende Hand zu reichen.
Jetzt konnte ich nur noch darum beten, daß der chinesische Kommandant inzwischen begriffen haben möge, daß trotz des Feuers, das wir auf sein Schiff eröffnet hatten, unsere Absichten friedlich waren.
Commander Brandis prallte hart gegen die Bordwand der Lotus, und einige bange Augenblicke lang fürchtete ich, er sei bewußtlos geworden. Offenbar jedoch war er nur etwas benommen, denn gleich darauf hatte er sich wieder gefaßt und ließ sich vom Treibsatz die Bordwand entlangschleifen, bis seine Hand die des Lotus-Mannes berührte. Der Treibsatz erlosch. Der Commander entschwand schwerfällig im aufgefahrenen Luk.
Das Letzte, was ich von Commander Brandis sah, war seine winkende Hand. Es konnte ein Winken des Abschieds sein, aber wahrscheinlicher war, daß es sich dabei um den Befehl zum Start handelte.
Der Computer rechnete mir unerbittlich vor, daß weitere vierzehn Sekunden vergangen waren. Ich beugte mich über das Mikrophon und drückte die Sprechtaste. »Delta VII an Lotus. Es wird gleich ein wenig Wirbel geben. Ich führe einen Alarmstart durch.«
»Roger.« Der chinesische Pilot sprach ein perfektes, nahezu akzentfreies Metro. »Ich halte Sie nicht auf.«
Es war neunundzwanzig Sekunden vor Null-Zeit, als ich das Triebwerk auf »Volle Leistung« schaltete und damit schlagartig den ungeschmälerten Schub von 10500 Tonnen auf die Düsen gab.
Delta VII stieß wie ein Pfeil in die Sonne.
Es mag eine halbe Minute oder mehr gedauert haben, bis ich mich von der Benommenheit, in die mich die gewaltsame Beschleunigung gestürzt hatte, so weit wieder erholt hatte, daß ich in der Lage war, mich wieder auf meine Pflichten zu besinnen. Mein erster bewußter Blick galt den Radarschirmen.
Was ich dort sah, ließ mir das Blut gefrieren.
Die Ho-Tschi-Minhs hatten die Verfolgung aufgenommen – und sie hielten Schritt. Sie waren schneller, als unsere Aufklärer je angenommen hatten, unvergleichlich viel schneller. Die Strategische Raumflotte des Generals, so schoß es mir durch den Sinn, würde in ihnen einen gefährlichen Gegner haben. Im Augenblick freilich wünschte ich mir, sie wären weniger schnell und gefährlich.
Erst als Delta VII die volle Geschwindigkeit erreicht hatte – sie lag im Raum bei 200.000 Kilometern pro Stunde –, begannen die Ho-Tschi-Minhs zurückzufallen. Dann allerdings vergrößerte sich der Abstand zwischen ihnen und Delta VII zunehmend. Die Lichtpunkte auf dem Radarschirm wurden schwächer und schwächer und erloschen schließlich ganz.
Einige Minuten lang ließ ich Delta VII weiterhin der Sonne entgegenjagen, dann zog ich sie auf einen anderen Kurs und schaltete zurück auf Automatik. Gleichzeitig hob ich den Alarmzustand auf und befreite mich von den lästigen Gurten.
Lieutenant Stroganow wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. »Alles, was recht ist, Sir«, bemerkte er, »aber diese Schlitzaugen verstehen sich darauf, Dampf aufzumachen.«
»Wir werden es nicht vergessen«, sagte ich und begann, die Lotus zu rufen. Ich hätte es gar nicht erst versuchen sollen. Nachdem ich sie ein paar Minuten lang gerufen hatte, ohne eine Antwort zu bekommen, gab ich es auf.
»Wenn Sie sich Sorgen um den Commander machen, Sir«, sagte Ibaka, »der kommt schon zurecht.«
Ein Blick auf sein Gesicht genügte mir, um zu wissen, daß diese Zuversicht nur sehr oberflächlich war. In Wirklichkeit machte er sich genau so viel oder so wenig Sorgen um Commander Brandis wie wir anderen an Bord von Delta VII auch. Es war schwer vorauszusehen, wie die Chinesen auf diesen Zwischenfall reagieren würden. Ihr Mißtrauen gegenüber der EAAU war tief und nicht einmal unbegründet. Nur wenige Jahre war es her seit dem Raumzwischenfall, den General Gordon B. Smith, bevor man ihn in die Verbannung schickte, eigenmächtig heraufbeschworen hatte. Nun, da der General aus der Verbannung zurückgekehrt war und mit seinen Laser-Batterien die Macht in der EAAU an sich gerissen hatte, gab es für die Chinesen keinen Grund, vertrauensselig zu sein. Commander Brandis würde einen schweren Stand haben, sie von der Lauterkeit seiner Absichten zu überzeugen.
Ich sagte: »Sie, Lieutenant Ibaka, und Sie, Lieutenant Stroganow, werden von nun an, bis der Commander sich meldet, abwechselnd die VOR-Frequenzen überwachen, jeweils vier Stunden lang. Das Kennwort – ich wiederhole es – lautet Heimweh.«
»Aye, aye, Sir«, sagte Ibaka.
»Aye, aye, Sir«, sagte auch Stroganow.
Bis zum Eintreffen des Commanders – auf einmal wurde es mir bewußt – trug ich die volle Verantwortung für das Schiff. Es war ein hervorragendes Schiff, das beste und schnellste, daß VEGA je entwickelt hatte, Prototyp einer atomar angetriebenen Serie, die nie gebaut wurde, weil während des ersten Erprobungsfluges von Delta VII der General die Macht auf der Erde an sich gerissen hatte. In einem letzten Aufbegehren gegen die Reinigende Flamme hatten die VEGA-Ingenieure alle Unterlagen der Neukonstruktion vernichtet. Nur der Prototyp war übriggeblieben, Delta VII, dieses Schiff, in dem die gesamte Ingenieurkunst des Westens zusammengeflossen war, eine in Materie umgesetzte mathematische Formel, für deren Besitz der General die Hälfte seiner Raumflotte hingeben würde. Die von ihm angestrebte Überlegenheit über die VOR und damit die ungeteilte Herrschaft über das All: die Delta-VII-Serie hätte sie ihm gesichert.
Es war der 20. Mai des Jahres 2070, 05.13 Uhr Metropoliszeit, als ich Delta VII mit langsamer Fahrt hineinlenkte in die kalte Leere des Raumes, wo mich irgendwann die vereinbarte Nachricht erreichen sollte.
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