Die Altlasten des 20. Jahrhunderts haben die Zivilisation des 21. Jahrhunderts eingeholt: der Kilimanjaro ist ein Depot für radioaktiven Müll. Als eine Serie tektonischer Beben und Vulkanausbrüche über die Erde hinwegzieht, versucht man unter höchstem Zeitdruck, den Kilimanjaro zu leeren. Ausrangierte Raumschiffe sollen die hochtoxische Flüssigkeit in die Sonne befördern. Es wird ein Himmelfahrtsunternehmen unter strengster Geheimhaltung, und zum ersten Mal wirft ein Einsatz Schatten auf die Liebe zwischen Mark und Ruth: der Schatten heißt Friedrich Chemnitzer.
(11) Operation Sonnenfracht
€12,00
Mark Brandis, Band 11
Paperback, 164 Seiten
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Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 01
Der 25. Oktober 2076, ein Sonntag, brachte den VEGA-Bossen von San Francisco nach einer verregneten Woche eben jenes Wetter, das man sich für einen Tag der offenen Tür wünscht: strahlenden Sonnenschein und heiter-blauen Himmel.
Wenn es die Aufgabe dieses Tages gewesen wäre, alle die Menschen in trügerischer Sicherheit zu wiegen, die sich zu dieser einmaligen Attraktion – einen Blick zu tun hinter die Kulissen der geheimnisumwitterten autonomen Institution ,Venus – Erde, Gesellschaft für Astronautik’ – in San Francisco zusammengefunden hatten, während sich tief im Inneren der Erde die Katastrophe vorbereitete – er hätte es nicht geschickter anstellen können. Die Heiterkeit des Lichts und die Süße der Luft ließen böse Ahnungen gar nicht erst aufkommen. Der Besucherandrang übertraf die kühnsten Erwartungen. Für den Mann von der Straße war das Reich der Sterne, in das ihn die fachkundigen hübschen Hostessen entführten, nach wie vor ein faszinierendes Rätsel. Nur bei wenigen reichten die Erfahrungen über einen Trip zur Venus und zurück hinaus. Ab acht Uhr früh bis zum Einbruch der Dunkelheit glichen Pisten, Rampen, Werften und Werkhallen und sogar das riesige Verwaltungsgebäude, das an Größe nur noch von jenem in Metropolis übertroffen wurde, einem wimmelnden Ameisenhaufen.
Meistbestauntes Schiff war die Medusa, die ich tags zuvor eigens nach San Francisco überführt hatte, der Welt legendärster, weil schnellster Protonenkreuzer: 1875 Tonnen konzentrierter Energie. Ich sah Leute, die ihre Nase der kühlen, glatten Außenhaut des Schiffes näherten, als hofften sie, daran wäre so etwas wie der Geruch der Sterne haftengeblieben. Doch da auch das beste Raumschiff nicht dazu zu bewegen ist, neugierige Fragen zu beantworten und Autogramme zu verteilen, blieb diese Ehre an mir hängen: das Ergebnis dieser Zurschaustellung war, daß ich am Abend nur noch zu krächzen und zu flüstern vermochte, während mein rechtes Handgelenk schmerzhaft anschwoll.
Als ich mich schließlich in den Pilotentrakt der VEGA flüchtete und dort unter die Dusche stellte, verfluchte ich John Harris, meinen obersten Vorgesetzten, ebenso wie meine Nachgiebigkeit, mit der ich alle diese überflüssigen Strapazen selbst heraufbeschworen hatte. Ein Teil meines Zornes richtete sich auch an die Adresse von Ruth O’Hara, meiner eigenen Frau, die in ihrer Eigenschaft als Public-Relations-Chefin der VEGA mich mit zu diesem fragwürdigen Abenteuer überredet hatte. Statt jedoch die einmal eingebrockte Suppe gemeinsam mit mir auszulöffeln, ließ sie sich auf höhere Weisung ausgerechnet von Miss Harriet Pinkerton vertreten: einer blaustrümpfigen, aufdringlichen Kollegin, die ich auf den Tod nicht leiden konnte.
Und noch ein zusätzlicher Groll rumorte in mir: Ich bereute jenes an William Xuma, meinen Ersten Bordingenieur, verpfändete Wort, das mich nunmehr am ersehnten Feierabend daran hinderte, mich zur wohlverdienten Ruhe zu begeben.
Ich war müde bis in die Knochen, und nicht einmal die aufreizenden Lichtreklamen der zum Nachtleben erwachenden Riesenstadt vermochten meine Phantasie zu beflügeln. Freiwillig hätte ich den ersehnten Schlaf allenfalls einem einsamen Flug unter den Sternen geopfert: einer jener laut- und zeitlosen Träumereien im kalten Licht fremder, nie betretener Welten. Was dort oben im Herzen eines Menschen vorgeht – ein einziger hatte es mit seinen Versen auszudrücken vermocht, und dieser einzige war aus dem Reich der Sterne nicht zurückgekehrt: Boleslaw Burowski.
Es brachte mir nichts ein, mich zu den Sternen hochzuträumen. An dem Versprechen war nicht zu rütteln. Lieutenant Xuma brannte darauf, mir sein Mädchen vorzustellen, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Bisher kannte ich Jane nur von Fotografien. Gleich Lieutenant Xuma war sie von schwarzer Hautfarbe, aber während er aus Südafrika gebürtig war, stammte sie aus Nairobi. Und dorthin, zu ihren Eltern, war sie nun, aus New York kommend, wo sie Nationalitätenkunde studierte, für die Dauer der winterlichen Semesterferien unterwegs: mit einem kleinen Schlenker über San Francisco.
Mein Versprechen einzulösen bedeutete, mich zu beeilen. Der zivile Flughafen lag am anderen Ende der Stadt – und selbst für einen schnellen Helikopter war das mit Start und Landung ein Weg von gut fünfzehn Minuten. So stieg ich denn mit einigem Widerwillen unter der Dusche hervor, rasierte mich und kleidete mich an. Bevor ich den Ruheraum verließ, warf ich noch einen Blick in den Spiegel. Die dunkelblaue Uniform mit den goldenen Abzeichen eines Commanders (VEGA) saß tadellos – doch nicht ihr galt meine Aufmerksamkeit, sondern jener ersten grauen Haarsträhne, die mir die Vergänglichkeit aller Dinge signalisierte. Die Jahre begannen sich bemerkbar zu machen. Was mir fehlte, um mich von den Anstrengungen eines Tages wie des hinter mir liegenden im Handumdrehen zu erholen, war die Elastizität der Jugend. Die Jahre gingen dahin – und ich verplemperte einen vollen unwiederbringlichen Tag auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Als ich, halbwegs erfrischt, in der mächtigen Halle erschien, die von einer künstlichen Neonsonne, die unter der Kuppel frei zu schweben schien, nahezu taghell erleuchtet war, fand ich die Medusa-Crew bereits vollzählig versammelt vor, und die bei solchen Anlässen unvermeidliche Frotzelei war in vollem Gange.
»Vorsicht, Billy.« Captain Romen sprach, mein Pilot. »Die Kikuyu-Mädchen tun nur so, als wären sie lieb und sanft. In Wirklichkeit sind sie ausgekochte Kannibalinnen.«
Lieutenant Xumas Miene glich einer schwarzen polierten Maske: nicht ein einziger Muskel zuckte. »Gut, daß Sie mich daran erinnern, Captain. Es wäre mir um ein Haar entfallen. Jane ist ganz versessen auf Zigeunerbraten. Ich an Ihrer Stelle würde auf Abstand achten.«
Grischa Romen, von Lieutenant Xuma dezent an seine eigene braune Haut erinnert, lachte. Seine perlweißen Zähne funkelten. In seiner adretten Uniform sah er so verwegen aus, wie ein Zigeuner nur aussehen kann. Lieutenant Iwan Stroganow, mein grauhaariger Navigator, den Jahren und der Erfahrung nach der Älteste von uns allen, bemerkte gemächlich: »Ich glaube eher, der Captain wollte sagen, man sollte Ihre Jane mit einer schwarzen Rose vergleichen. Und da bekanntlich keine Rose ohne Dornen ist –«
»– werden Sie so klug sein«, vollendete Lieutenant Xuma schlagfertig, »die Finger von ihr zu lassen!«
Auch Stroganow, der stämmige, unerschrockene Sibiriak, war abgeschlagen. Er schmunzelte.
»Eh bien«, meldete sich mit echtem französischem Zungenschlag, der langjährige Kultivierung verriet, Antoine Mercier, Funkoffizier an Bord der Medusa, »es muß ja nicht unbedingt immer die ganze Rose sein. Ich zum Beispiel würde mich damit begnügen, dann und wann ihren Duft zu atmen.«
»So«, antwortete Lieutenant Xuma trocken. »Nun, falls Sie es noch nicht wissen, möchte ich Sie darauf hinweisen: der Duft einer schwarzen Rose ist in höchstem Maße berauschend. Wie oft wollen Sie sich eigentlich dienstunfähig schreiben lassen?«
Lieutenant Konstantin Simopulos, der Radar-Controller, wiegte den Kopf.
»Geben Sie es doch gleich zu, Billy, daß Sie uns von Jane nichts abgeben wollen. Aber das ist ein Fehler, der Sie unweigerlich unter den Pantoffel führt. Die einzige Alternative heißt: Teile und herrsche!«
»Mir scheint«, erwiderte Lieutenant Xuma, »Sie verteilen Ratschläge, an die Sie selbst sich nie gehalten haben. Wie lebt es sich denn so unter dem Pantoffel?«
Lieutenant Simopulos bekam einen roten Kopf. Die Meute brüllte.
Sergeant Per Dahlsen, einem Veteranen des Boxringes ähnlicher als einem Schiffskoch, war der nächste, der sich eine Abfuhr einhandelte. Er sagte, indem er auf die Uhr blickte: »Nun, meine Herren, während Sie sich streiten, werde ich mir erlauben, Jane in Empfang zu nehmen.«
Lieutenant Xuma nickte. »Ausgezeichnet. Der Rollentausch gefällt mir. Vorausgesetzt, Sie erklären sich mit dem Hochzeitsmahl einverstanden, das ich für Sie bereite.« Sergeant Dahlsen machte ein entsetztes Gesicht und schnaubte entrüstet.
Meine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Pablo Torrente, der der Medusa als neuer Zweiter Ingenieur zugeteilt war; bislang war er für mich ein unbeschriebenes Blatt – oder vielmehr: ein nüchterner Personalakt. Pablo Torrente, geb. 17. 5. 2047 als Sohn mexikanischer Eltern auf der Venus. Ausbildung zum Maschinenschlosser. Abendstudium an der VEGA-Schule für Raumfahrt in Moskau. Bestand Examen zum Ingenieur (astron.) mit sehr gut. Spezialisiert auf das Fachgebiet Elektronik. Auf dem Gebiet Inhaber mehrerer Patente.
Torrentes flaches Indiogesicht war ebenso ausdruckslos wie das Gesicht von Lieutenant Xuma. »Ich meine«, sagte er, »Miss Jane hat ein Recht darauf, selbst Ihre Wahl zu treffen. Ich bin überzeugt – sobald Sie mich erblickt, wird sie nur noch Augen für mich haben.«
»Das kann geschehen«, bestätigte Lieutenant Xuma ungerührt. »Jane schwärmt für Altertümer und Ruinen.«
Um Lieutenant Torrentes Augen zeigten sich plötzlich Lachfalten. Er wollte noch etwas sagen – aber in diesem Augenblick erspähte er mich.
Um diese Zeit war meine Stimmung wiederhergestellt. Der Anblick meiner Männer war von heilsamer Wirkung. Was mich mit ihnen verband, vermag nur nachzuempfinden, wer selbst mit einer ähnlichen gehärteten Crew unter den Sternen fliegt. Gewohnheit? Mehr als das. Freundschaft? Dies wohl – und darüber hinaus jenes einzigartige Bewußtsein, wie es aus gemeinsam bestandener Gefahr und gemeinsam bezwungener Einsamkeit wächst: eine nahezu familiäre Solidarität.
»Sir«, sagte Lieutenant Torrente, »mein verehrter Kollege Billy ist gerade dabei, seine Jane meistbietend zu versteigern. Ihr Gebot steht noch aus.«
Hier, auf der festen Erde, außer Dienst, war das Band der Disziplin weitgehend gelockert. Lieutenant Torrentes Ton war, bei allem mir geltenden Respekt, von kameradschaftlicher Ungezwungenheit. Die gute Laune der Männer sprang auf mich über.
Mein Gebot? Lieutenant Torrente hatte mich überrumpelt, indem er mich in das Spiel miteinbezog. Ich zerbrach mir den Kopf über eine witzige Bemerkung. Von mir, dem Commander, wurde erwartet, daß ich mit meiner Frotzelei die der anderen noch übertraf.
Meine Phantasie war wie gelähmt. Nichts Gescheites wollte mir einfallen. Ich war so müde, daß ich das Gefühl hatte, der Boden unter meinen Füßen begänne zu schwanken.
Was war los mit mir? War ich krank? Oder war ich lediglich ein Opfer meiner überreizten Nerven? Auf einmal hatte ich den alarmierenden Eindruck, daß sich die riesige Neonsonne über unseren Köpfen bewegte. Ein fernes, dumpfes Grollen wurde vernehmbar. Es schwoll an, es kam näher, es wurde lauter. Das Stimmengewirr, das soeben noch die Halle erfüllt hatte, brach plötzlich ab. Ich sah erstaunte, betretene, ratlose Gesichter.
Dicht neben meinem Ohr vibrierte eine Vitrine. Demnach bildete ich mir, was ich spürte, nicht ein. Ein leichtes Zittern ging durch die Erde.
Nun merkten es auch meine Männer. In ihren Mienen erlosch die Heiterkeit. Wachsamkeit trat an deren Stelle.
Das Grollen wurde lauter und lauter. Die Luft in der Halle dröhnte. Der marmorne Fußboden, auf dem ich stand, zuckte und begann sich zu schütteln.
Mein Gebot? Niemand wollte es mehr hören. Das Gebot des Augenblicks war ein anderes. Ich sprach es aus. Mit meiner heiseren, krächzenden Stimme schrie ich: »Auseinander! Sofort auseinander!« – und der Befehl tat seine Schuldigkeit. Die Männer, in langjähriger Erfahrung im Gehorchen geschult, brachten sich mit ein paar raschen Sätzen in Sicherheit: unmittelbar bevor, wo sie eben noch gestanden hatten, die künstliche Neonsonne aufschlug und zerschellte. Ohne meinen Aufschrei hätte sie unter der Medusa-Crew ein Massaker angerichtet.
Es schien, als hätte es dieses lauten Klirrens bedurft, um den in der Halle versammelten Menschen zu Bewußtsein zu bringen, welche unkontrollierbare Macht da plötzlich in ihr friedliches Leben eingriff. Das explosionsartige Klirren riß sie aus ihrer Erstarrung. Panik setzte ein. Die ersten Schreckensrufe wurden laut. Menschen rannten zu den Ausgängen. Dort ballten sie sich zu kreischenden, wimmelnden Schwärmen. Jeder wollte der erste sein, der sein Leben rettete.
Ein Lautsprecher meldete sich zu Wort. Eine weibliche Stimme sagte: »Meine Damen und Herren, soeben erreicht uns eine Erdbebenwarnung. Bitte, verlassen Sie unverzüglich –«
Mitten in der Durchsage brach die Stimme ab. Auch die letzten Lichter erloschen. Die Stromversorgung war zusammengebrochen. Dunkelheit fiel über uns her. Das dumpfe Dröhnen war nun so laut, daß mir die Trommelfelle schmerzten. Unter meinen Füßen hob und senkte sich der Fußboden wie unter der Einwirkung durchlaufender Wellen. Und noch ein anderes Geräusch war plötzlich zu hören: das hohle Seufzen der aufbrechenden Wände. Irgendwo ging ein Steinschlag nieder. Die Luft schmeckte nach Mörtel und war kaum noch zu atmen. Irgend etwas traf mich auf der Schulter. Tief im Inneren der Erde wütete die unkontrollierbare Macht. Ich fühlte mich ihr ausgeliefert und preisgegeben – doch zugleich erwachten in mir Erinnerungen und Instinkte: geboren in bebenden, zuckenden Schiffen unter den Sternen, in Augenblicken höchster Gefahr, wo es auf die Sekunde ankam, um noch einmal, und sei es nur für einen weiteren Atemzug, zu überleben, wo jeder Befehl, mit heiserer Stimme hervorgestoßen, über Sein und Nichtsein von Schiff und Besatzung entschied, und so kam es, daß ich, statt mich der kopflosen Flucht anzuschließen, mit schmerzenden Stimmbändern krächzte: »Medusa-Crew – zum Piloteneingang!«
Der Eingang für Piloten, nur wenige Schritte von mir entfernt, war der einzige, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht blockiert war.
Das Beben wurde stärker. Schutt und Trümmer gingen auf mich nieder. Der monumentale Prachtbau der VEGA – oft genug angeführt als ein Vorbild moderner Architektur – befand sich in Auflösung. Ich rannte los. Irgendwie fand ich den Ausgang, irgendwie gelangte ich hinaus ins Freie: hinausgeschleudert von einer jähen Druckwelle, als hinter mir die Kuppeldecke über der Halle einstürzte.
Es war, als hätte das Beben lediglich diesen einen Akt der Zerstörung im Sinn gehabt. Auf einmal trat Ruhe ein. Das dumpfe Grollen verstummte. Die Erde fühlte sich wieder fest und zuverlässig an. Nur noch das Geschrei der geängstigten Menschen war zu hören und – was konnte es anderes sein? – das Wimmern der unter den Trümmern Begrabenen. Das Bild, das sich mir bot, war von apokalyptischer Schönheit. Unter dem unbeirrbar leuchtenden Mond hatte sich die ganze riesige Stadt San Francisco in eine einzige dampfende Staubwolke gehüllt, in der hier und da das Gelb und Orange der ersten Brände schwelte.
»Sir! Sir, sind Sie in Ordnung?« Ich erkannte Captain Romen. Seine Uniform war zerfetzt, er blutete aus einer klaffenden Stirnwunde.
»Danke, Captain. Wo sind die andern?«
»Alle in Sicherheit, Sir.«
»Rufen Sie sie zusammen! Haben Sie eine Ahnung, wie wir zu einem Transporter kommen?«
»Dort drüben steht einer, Sir.«
Nicht weit von uns entfernt stand in der Tat ein abgestellter, verlassener Transporter. Irgendeine Crew, die sich seiner bedient hatte, war zu bequem gewesen, ihn, wie es die Vorschrift wollte, in die Garage zu bringen. Mit meinen vom Staub gepeinigten Augen hatte ich ihn zuvor übersehen.
»Holen Sie ihn!«
»Und dann, Sir?«
»Und dann?« Der Schock, unter dem ich stand, entlud sich. Zum ersten Mal schrie ich Captain Romen an. »Dann gehen wir an Bord und machen, daß wir hier wegkommen, bevor der Zirkus wieder losgeht!«
»Sir!« Captain Romens Stimme klang entsetzt. »Wir können uns doch nicht einfach davonstehlen!«
»Wir können und werden!« krächzte ich. »Mir scheint, Sie haben noch nicht begriffen, daß dies eben nur ein Auftakt war. Holen Sie jetzt den Transporter.«
»Aye, aye, Sir.«
Captain Romen widersprach nicht länger. Er stürzte davon.
Ich ahnte, was in ihm vorging. Er dachte an die Menschen unter den Trümmern. Es widerstrebte ihm, sie im Stich zu lassen. Glaubte er wirklich, ich wäre taub gegen ihre Schreie? Aber im Gegensatz zu ihm, der von meinen Befehlen abhing, lastet auf mir die Verantwortung für ein wertvolles Schiff – vor allem aber für dessen Besatzung. Im Augenblick war Flucht die einzige vernünftige Entscheidung.
»Lieutenant Stroganow!«
»Hier, Sir!«
»Lieutenant Xuma!«
»Hier, Sir!«
»Lieutenant Torrente!«
»Hier, Sir!«
»Lieutenant Mercier!«
»Hier, Sir!« Knapp und sachlich, ohne französischen Zungenschlag.
»Lieutenant Simopulos!«
»Hier, Sir!«
»Sergeant Dahlsen!«
»Hier, Sir!«
Die Männer umringten mich. Sie alle waren mehr oder minder leicht verletzt, aber niemand fehlte. Ich atmete auf. Bis zu dieser Sekunde war ich mir nicht im klaren darüber gewesen, wie sehr ich mich um sie gesorgt hatte.
»Wir gehen an Bord.«
Der von Captain Romen gesteuerte Transporter schwebte fauchend heran. Die Menge erkannte das und setzte zum Sturm an. Wenn es ihr gelang, sich des Transporters zu bemächtigen, mußte es unweigerlich zu einem Blutbad kommen: die Leute waren wie von Sinnen.
»Beeilung, Männer!«
Die Männer stiegen ein. Die Menge schrie und johlte. Trümmerstücke flogen durch die Luft. Auch ich stieg ein und zog den Schlag zu. Der Transporter drehte auf der Stelle und nahm Kurs auf die Startrampen.
Etwas würgte mich in der Kehle. Das Bewußtsein, alle diese Menschen – zufällige Besucher, aber auch Bekannte und Freunde – zurücklassen zu müssen, war erbärmlich. Jedoch – solange die Katastrophe anhielt, lag es nicht in meiner Macht, ihnen zu helfen.
Der Transporter begann sich plötzlich zu schütteln. Ich spürte mich hin und her geworfen. Das Erdbeben hatte wieder eingesetzt, stärker und machtvoller noch als zuvor. Unsichtbare Druckwellen griffen nach dem dahinjagenden Fahrzeug und beutelten es, als wäre es ein welkes Blatt im Wind.
Einer Hölle waren wir mit knapper Not entronnen. Die nächste tat sich nunmehr vor uns auf. Alles geschah binnen weniger Sekunden, nahezu auf einmal. Die Eindrücke überschnitten sich, gingen ineinander über, verschmolzen zu einem einzigen verfilzten Paket des Grauens und Entsetzens:
– eine Werfthalle, hoch wie ein Wolkenkratzer, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Staub wallte hoch.
– ein Krangerüst kippte um und verfehlte unseren Transporter – dank Captain Romens geistesgegenwärtiger Reaktion – um Haaresbreite.
– ein mit flüssigem Treibstoff gefüllter Kessel platzte auf. Gleich darauf stand er in Flammen. Der Sturmwind der Explosion warf den Transporter aus dem Kurs.
– ein Tower stand wie ein schwarzer Zeiger schwankend vor dem Mond und kippte dann unmittelbar vor uns auf das betonierte Band der Piste.
– eine Najade versuchte abzuheben. Im Augenblick des Startens fiel sie auf die Seite und verwandelte sich in eine horizontal dahinhuschende Kanonenkugel. Sie bohrte sich in das Direktionsgebäude und explodierte.
– und dann, als die Medusa bereits in Sicht war, tat sich vor dem Transporter die Erde auf. Eine Stichflamme schoß daraus hervor und hüllte uns ein. Die Hölle schickte sich an, uns zu verschlingen. In letzter Sekunde gelang es Captain Romen, den Transporter herumzureißen und auf neuen Kurs zu legen. Wir erreichten das Schiff und beeilten uns, an Bord zu gehen. Mit ohrenbetäubendem Donnern und Grollen meldete sich der dritte Erdstoß an. Die Medusa schüttelte sich wie in einem heftigen Orkan. Wir bezogen unsere Stationen.
Ich drückte die Taste. »Hier spricht der Commander. Bitte die Klarschiffmeldungen!«
In gewohnter Reihenfolge, in gewohnter Knappheit und Präzision meldeten sich die einzelnen Stationen. Captain Romen faßte die Meldungen zusammen: »Pilot an Commander! Sir, Schiff ist klar zum Start.«
»Danke, Captain. Bitte, Triebwerk.«
Ein leises Vibrieren ging durch das Schiff. Das Triebwerk war angesprungen: bereit, die 1875 Tonnen den Sternen entgegenzukatapultieren.
Durch das Cockpitfenster warf ich einen letzten Blick auf San Francisco. Der Anblick, der sich mir bot, war geeignet, das Blut gefrieren zu lassen. Die Staubwolke über der Stadt war von innen her erleuchtet. Sie glich einem riesigen Feuerball.
»Triebwerk läuft, Sir.«
»Danke, Captain. Freies Manöver. Start!«
»Freies Manöver. Start!«
Die Medusa begann zu steigen: scheinbar zögernd zunächst, wie festgehalten von der Erde, dann jedoch von Sekunde zu Sekunde schneller und schneller. Ich fühlte mich in den Sitz gepreßt. Die Medusa löste sich aus dem Bannkreis der Vernichtung und des Todes und eilte den Sternen entgegen.
Nach einer Weile sagte ich: »Danke, Captain, das genügt. Nehmen Sie jetzt Kurs auf Metropolis.« Und zu Lieutenant Mercier, der in seiner Funkerbude saß, für mich unsichtbar, sagte ich über die Bordsprechanlage: »Benachrichtigen Sie die Zentrale. Es könnte sein, daß man dort überhaupt noch nicht weiß, was sich in San Francisco zugetragen hat.«
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, daß ich das einzige Raumschiff kommandierte, dem es gelang, der Hölle von San Francisco zu entrinnen. Die VEGA verlor an diesem Abend dreiundvierzig Schiffe – mit Ausnahme der Medusa ihre komplette Ausstellungskollektion.
Und mit diesen Schiffen verlor sie, was uns sehr bald schon bitter fehlen sollte: kostbaren Frachtraum. Und ebensowenig ahnte ich, daß ich gerade erst damit begonnen hatte, mit dem Grauen zu leben.
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