Das Hospital-Schiff Paracelsus ist in einen Bereich mit Zusätzlicher Gravitation geraten und kann sich aus eigener Kraft nicht befreien. Der Crew der Henri Dunant gelingt es, die Passagiere der Paracelsus abzubergen und wieder Kurs aus dem Bereich der Zusätzlichen Gravitation zu nehmen.
Dann kommt es auf der Brücke der Henri Dunant zu einem folgenschweren Zwischenfall: Martin Seebeck verliert den Halt und reißt den Triebwerksregler ins Aus. Brandis startet zwar noch einen Versuch, dem Gravitations-Sog wieder zu entkommen, aber dann muss er das Triebwerk abschalten, um es nicht zu überlasten. Und die Henri Dunant fällt in den Strudel …
(23) Vargo-Faktor
€12,00
Mark Brandis, Band 23
Paperback, 178 Seiten
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
Schreiben Sie die erste Bewertung für „(23) Vargo-Faktor“ Antworten abbrechen
Kapitel 01
4.-10.11.2084
Er war unter den Passagieren, die an einem windigen Novembermorgen in Metropolis an Bord der Astoria gingen, wie ich bereit, die Reise zur Venus anzutreten, und obwohl er sich sofort von allen anderen absonderte – ein großer dünner Mann mittleren Alters mit dem stocksteifen Gehabe und humorlosen Betragen eines Menschen, der sich seiner Wichtigkeit auch noch im Schlaf bewußt ist – blieb es nicht aus, daß ich alsbald über ihn Bescheid wußte.
Als Reporter lebt man von der Wißbegier. Ich bin von Beruf aus neugierig. Wenn ich etwas erfahren will, erfahre ich es – fast immer. Auch diesmal erfuhr ich, was ich benötigte, um mir ein Bild zu machen. Da gab es, um mich zu unterrichten, die Stewards und Kellner; vor allem aber gab es da den Kommandanten des Astroliners selbst, Captain Henry Murdock, den ich von vielen anderen astralen Reisen her kannte und mit dem ich auf vertrautem Fuß stand.
Captain Murdock wußte von meiner beabsichtigten Reportage. Er selbst war Commander Brandis zweimal im Leben begegnet und schätzte ihn sowohl als Menschen wie als Astronauten. Vor allem aber schätzte er die UGzRR, die auf den astralen Schiffahrtsstraßen für Sicherheit sorgte. Was ich von ihm erfuhr, veranlaßte mich, mein Vorhaben in einem neuen Licht zu sehen.
Die Sensation vorweg: Der stocksteife Herr war Commander Elmar Busch, der vor kurzem den Dienst bei der VEGA quittiert hatte, um sich auf die Gehaltsliste der Globe Finance setzen zu lassen – diesem Monstrum im Finanzwesen, zu dem sich 368 Banken der aus den drei Kontinenten Europa, Amerika und Afrika bestehenden Union (EAAU) zusammengeschlossen hatten.
Über den Hintergrund dieses Wechsels eines erfahrenen Astronauten aus dem Cockpit eines Expeditionsschiffs in die Chefetage der Zinsbarone konnten Captain Murdock und ich nur Vermutungen anstellen.
Captain Murdock sah ihn vom Standpunkt des Astronauten. »Ich wette«, sagte er »das hängt zusammen mit der Han-Wu-Ti-Katastrophe im vergangenen Jahr. Busch hat es sich nicht verziehen, daß er in der Sache versagt hat.«
Das war nicht von der Hand zu weisen. Die Explorator, mit der Mark Brandis seinen Einsatz in der Triton-Passage geflogen war, hatte ursprünglich von Busch geführt werden sollen. Unter einem fadenscheinigen Vorwand war er zu Hause geblieben. Eifersucht, Rivalität oder ganz schlicht Scham: es mochte durchaus sein, daß hier irgendwo Buschs wunder Punkt lag. Ich freilich glaubte weniger an gekränkte Eitelkeit als Triebfeder; als Journalist lernt man im Lauf der Zeit viele Menschen kennen und einschätzen, daher dachte ich an ein viel einfacheres Motiv mit der Bezeichnung Lohntüte. Die GF zahlte Spitzengehälter. Wenn man Buschs Wechsel unter diesem Gesichtspunkt sah, dann war er in seinem Beruf zweifellos die Treppe hinaufgefallen.
In der Abteilung 113 der Globe Finance (Darlehen und Hypotheken) mit ihrer Unterabteilung römisch neun (IX – Astronautik) stand er der Sektion Technische Kontrollen vor. Mit anderen Worten: er war in Fragen der Schiffsfinanzierung der maßgebliche Gutachter.
»Und wissen Sie, wer sein unmittelbarer Vorgesetzter ist?« fragte Captain Murdock.
Ich wußte es nicht. Mit der Globe Finance hatte ich mich bisher nicht befaßt.
»Wer?«
»Ein alter Feind Ihres alten Freundes!« klärte Captain Murdock mich auf. »Dr. Mildrich.«
Ich entsann mich eines farblosen, ehrgeizigen Akademikers, in dem viele schon den Mann gesehen hatten, der den eigenwilligen John Harris als Direktor der VEGA ablösen würde. So weit war es zum Glück nicht gekommen. Bis vor kurzem noch war Dr. Mildrich Staatssekretär im Auswärtigen Amt gewesen. Als sein Minister über die Han-Wu-Ti-Affäre stürzte, hatte auch er den Hut nehmen müssen. Nun also sorgte die Globe Finance dafür, daß sein Talent nicht verkam.
»Wittern Sie den Zusammenhang, Mr. Seebeck?« erkundigte sich Captain Murdock.
Offen gesagt: noch witterte ich ihn nicht. Ich war nicht auf dem laufenden. Fast ein Vierteljahr lang hatte ich in völliger Klausur gelebt: um die Hände frei zu bekommen für die neue Reportage. Im übrigen war es auch nicht meine Absicht, mich mit Witterungen zu beschäftigen. Mich interessierten Tatsachen. Ich stehe in dem Ruf, nicht nur fesselnde Stories heimzubringen, sondern stets auch eine handfeste Dokumentation. Ein solcher Ruf verpflichtet.
»Ich bin gespannt«, erwiderte ich, lehnte mich zurück und ließ das Glas Kognak, das ich gerade in der Hand hielt, rotieren, als wäre es die Kugel eines Wahrsagers. Dies war ein Fall, um keine Fragen zu stellen und den anderen reden zu lassen. »Schießen Sie los, Captain!«
Meine Geduld wurde auf die Probe gestellt. Der private Plausch im Salon des Kommandanten wurde durch einen Anruf unliebsam gestört. Captain Murdock, der auf der Brücke verlangt wurde, erhob sich seufzend.
»Ich bitte um Nachsicht, Mr. Seebeck: Die leidige Pflicht! Schenken Sie sich noch ein Glas ein! Es wird nicht lange dauern. Wir reden noch über die Sache. Ich sage Ihnen aber jetzt schon: Ihre Story hat das Zeug, reinstes Dynamit zu werden.«
Der Kommandant der Astoria entschwand im Aufzug. Ich beschäftigte mich mit der Kognakflasche, die ruhig auf dem Tisch stand. Nichts bebte, nichts vibrierte. Hinter getöntem Glas, ohne zu blenden, schwebte ein unbeweglicher Sonnenball. Waren wir tatsächlich unterwegs: an Bord eines gedankenschnell ziehenden Schiffes in der kalten, leeren Unendlichkeit des Raumes? Es fiel schwer, daran zu glauben.
Ein anderes Schiff fiel mir ein – das, was mich erwartete. Zur Astoria mit all ihrem Komfort verhielt sich die Henri Dunant etwa wie ein Fischkutter zu einem Ozeanriesen. Sie war klein, unbequem und stank nach Arbeit.
Eigentlich war es an der Zeit, das Gesicht zu verziehen und meinen Entschluß zu verfluchen. Was zwang mich nur immer wieder hinaus? Andere saßen daheim hinterm warmen Ofen und verdienten das gleiche Geld, wenn nicht mehr, indem sie in Archiven alte Texte aufstöberten, Leute befragten oder, ganz einfach, sich alles aus den Fingern sogen. Aber da war die UGzRR – und die war, ich spürte es, eine Story wert: eine verdammt gute Story. Und wer hinterm Ofen saß, brachte sich um die Chance, diese Story zu schreiben. Ich wollte sie. Ich wollte sie mit Haut und Haaren.
Aber wieso Dynamit?
Ich spürte ein böses Ahnen. Sollte ich mich in ein Spiel eingelassen haben, dessen Regeln ich nicht kannte?
Ich zog den Block aus der Tasche und malte darauf ein einziges Wort: BUSCH. War das die Eröffnung? Der dickste Roman beginnt mit einem einzigen ersten Wort. Ich starrte zweifelnd auf das Papier. Bisher war alles nur eine Vermutung.
Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich. Captain Murdock kehrte zu mir zurück. Mit ihm kam ein kalter Hauch. In seinen Gedanken war er noch auf der Brücke.
»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Seebeck!« sagte er noch einmal. »Es ging um eine Neufestsetzung des Kurses. Wir werden einen kleinen Umweg fliegen.«
Er lies sich in einen bequemen Sessel sinken, der ebenso gut in einem Hotel namens Astoria hätte stehen können. Daheim – ich wußte es – lebte er wesentlich bescheidener.
»Schwierigkeiten auf der Piste?« erkundige ich mich. »Dreck?«
Captain Murdock griff zu einer Zigarette.
»Schlimmer«, sagte er. »ZG. Wir schlagen einen Bogen um das fragliche Raumgebiet. Sie wissen, was ZG ist?«
Ich wußte es. Verspürte ich deshalb ein Frösteln? Die beiden Buchstaben standen für Zusätzliche Gravitation. Einem Astronauten waren sie verhaßter als tausendmal Dreck auf der Piste, als tausend ausgewachsene Meteoritenstürme.
»Ein schwarzes Loch?«
»Ich will es gar nicht so genau wissen«, erwiderte Captain Murdock. »Sobald ich auf ZG stoße, nehme ich die Beine in die Hand und renne. Wer mich auslachen will, soll mich auslachen.«
Ich lachte nicht. In diesem Fall ging es mir wie dem Kommandanten der Astoria: ich verzichtete auf einen hieb- und stichfesten Beweis.
Mein Wissen über das kosmische Phänomen, dem man die Bezeichnung Schwarzes Loch gegeben hatte, war lückenhaft. Einiges wußte ich. Die Theorie von der verdichteten Materie, die im Zentrum ihres gravitatorischen Strudels lauert wie die Spinne im Netz, vielleicht kaum größer als ein Asteroid, im Gegensatz zu diesem aber nicht zu sehen und selbst mit dem Radar nicht zu orten, war über hundert Jahre alt. Der endgültige wissenschaftliche Beweis stand immer noch aus. Es gab ein paar Berichte von Leuten, die sich aus einem solchen Strudel gerade noch hatten freistrampeln können. Der letzte trug die Unterschrift von Commander Brandis. Alle diese Berichte erwähnten einen gewaltigen Sog, und alle Berichterstatter waren sich darin einig, daß sie es nur mit seinem Rand zu tun gehabt hatten. Hinab getaucht in den Strudel und zurückgekehrt war noch keiner.
Captain Murdock brach das entstandene Schweigen.
»Wenigstens für Sie, Mr. Seebeck, macht sich unser Umweg bezahlt. Hoffentlich haben Sie Ihre Kamera dabei. Die Plattform Producer, eine astrale Pharmafabrik, ist in Brand geraten. Wir kommen dicht genug daran vorbei, um einen Blick auf das Spektakel zu werfen. Die Henri Dunant hat sich vor einer Stunde dorthin auf die Socken gemacht. Busch spricht darüber gerade mit der Globe Finance.«
Wir waren wieder beim Thema. Ich zog einen Kringel um den Namen auf meinem Block.
»Darüber?«
»Genau!« bestätigte Captain Murdock mit Nachdruck. »Ist es denn bis zu Ihnen noch nicht durchgesickert, daß die stets so gefeierte Unabhängigkeit der UGzRR bald nur noch auf dem Papier steht?«
Mein böses Ahnen war also nicht von ungefähr gekommen. Ohne es zu wollen, saß ich in der Story bereits mitten drin.
»Wiederholen Sie das, Captain!«
Captain Murdocks Blick folgte dem Rauch seiner Zigarette. Der Rauch stieg auf, geriet in den Sog der Entlüftung und wurde verschluckt.
»Die Gesellschaft hat in den sogenannten Schwarzen Wochen zwei ihrer Schiffe verloren, eins davon total. Man spricht davon, daß die Verluste ausgeglichen werden sollen durch den Ertrag einer Sammlung – aber Werften bestehen nun mal auf sofortiger Zahlung. Die UGzRR ist bei der Kosmos-Entwicklungs-Bank bis über die Ohren verschuldet. Das wäre an sich nicht weiter tragisch. Nur, die KEB gehört neuerdings der Globe Finance.« Captain Murdock ließ seine Worte auf mich wirken, bevor er hinzufügte: »Und damit sind wir wieder bei Commander Elmar Busch.«
Ich beugte mich vor.
»Was bedeutet seine Entsendung?«
»Er ist für die Gesellschaft so etwas wie ein Superkargo – das heißt, er schifft sich ein, um die Interessen der GF zu vertreten. Und diese sind in erster Linie: Herabsetzung des Risikos. Dr. Mildrich sorgt sich um das investierte Kapital.«
»Und in zweiter Linie?«
»Die Kommerzialisierung der Gesellschaft. Bei der GF steht man auf dem Standpunkt: Wer sich aus Raumnot retten läßt, soll dafür zahlen.«
Das also war es. Die UGzRR stand knapp davor, mit Stumpf und Stiel von der GF übernommen und nach neuen Gesichtspunkten betrieben zu werden. Ich kam gerade zurecht, um den Schwanengesang zu hören – den Schwanengesang einer großartigen Idee. Die Story, die zu schreiben ich aufgebrochen war zu den Sternen, war von vornherein mit Bitterkeit gewürzt.
An diesem Tag bekam ich Busch nicht mehr zu Gesicht. Am Morgen des 8. Novembers jedoch stand ich auf der Veranda im Oberdeck neben ihm, als die brennende Plattform vor dem Hintergrund der sechs glimmenden Punkte, die das Sternbild des Schwans bilden, zum Vorschein kam.
Um seinem verehrten Publikum ein unvergeßliches Schauspiel zu bieten, hatte Captain Murdock noch ein paar Stunden Reisezeit draufgelegt: die Astoria machte langsame Fahrt.
Vor dem feierlichen schwarzen Samt eines unbetretenen, unerforschten, jungfräulichen Weltraumes prangte, zum Bersten reif, eine Orange.
Die Astoria manöverierte sich heran, und aus der reifen Orange wurde die Plattform Producer. Der metallene Ball umschloß eine lodernde Hölle: Er war rotglühend vor Hitze, ein Bild des Schreckens. Wer sich aus dem Inferno hatte retten können und im glücklichen Besitz eines Raumanzuges war, stand oben auf dem Landedeck und wartete darauf, abgeborgen zu werden. In ein paar Meilen Entfernung konnte man das Stand-by-Boot der Plattform erkennen. Es quoll über und konnte niemanden mehr aufnehmen. Dies erfuhr man vom Ersten Offizier der Astoria, Flight-Lieutenant Dieter Krafft, der das Spektakel kommentierte.
»Im übrigen«, fuhr er fort, »bekommen wir gleich auch den Rettungskreuzer Henri Dunant zu sehen. Er muß jeden Augenblick zur Stelle sein.«
Die Höllenglut fraß sich mehr und mehr an das Landedeck heran und verwandelte es in einen riesigen Grill. Hier und da begannen die Menschen zu springen.
Mich schauderte.
Ein gedrungenes, plumpes Schiff schob sich mit pulsierenden Bremsdüsen ins Bild. Auf seiner uns zugekehrten Backbordflanke prangte weithin sichtbar das legendäre Embleme der UGzRR: ein gelber Sonnenball mit rotem Johanniterkreuz auf weißem Feld. Die Henri Dunant kam zur Ruhe und setzte ihr Dingi aus. Das Dingi beschrieb einen Halbkreis und nahm dann rasch und zielstrebig Kurs auf das Landedeck. Commander Brandis hatte offenbar beschlossen, zunächst das Deck zu räumen. Wer bereits im freien Raum schwebte, mußte warten; er war fürs erste außer Gefahr.
Das verehrte Publikum applaudierte.
»Und wer«, erkundigte sich an der Bar eine rothaarige Schönheit, die aussah wie ein Filmstar, »bezahlt diesen Rettungsflug?«
Der Erste Offizier stellte seiner Auskunft eine Verneigung vorweg.
»Alle Einsätze der UGzRR, gnädige Frau, werden grundsätzlich kostenlos geflogen.«
Ich sah mich unauffällig um. Commander Busch, der neben mir stand, machte ein steinernes Gesicht.
Die Astoria nahm wieder Fahrt auf – in Form eines kultivierten, kaum spürbaren Beschleunigens –, und die Veranda begann sich zu leeren. Die reife Orange rückte ferner und ferner, bis ich sie vollends aus den Augen verlor.
In meiner Kabine studierte ich die Aufnahmen, die ich geschossen hatte. Sie waren gestochen scharf, ein einmaliges Dokument.
Ohne weitere Zwischenfälle, mit neunzehn Stunden Verspätung, trafen wir in der Frühe des 11. Novembers auf der Venus ein. Die Astoria flog eine gemächliche Schleife, und ich hatte einen guten Blick auf die bläuliche Bergkette der Sierra Alpina mit der an ihrer Südflanke verlaufenden silbrigen Perlenschnur der Towns, wie man vereinfachend die dreizehn Städte nannte.
Als die Astoria ihren Leitstrahl erhielt und sich daran vollautomatisch hinunterhangelte zur Prominentenrampe – der Nummer 1 –, war die Henri Dunant von ihrem Einsatz noch nicht zurückgekehrt.
Ähnliche Produkte
Mark Brandis
€6,99
Mark Brandis
€6,99
Mark Brandis
€6,99
Mark Brandis
€6,99
Mark Brandis
€6,99
Mark Brandis
€6,99
Mark Brandis
€6,99
Mark Brandis
€12,00
Bewertungen
Es gibt noch keine Bewertungen.