Die Firmengruppe Kosmos-Trust hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesteckt: Der Planet Saturn soll kolonisiert werden. Um dies zu verwirklichen, will man seinen Mond Titan mithilfe einer nuklearen Zündung in eine kleine, künstliche Sonne verwandeln. Doch gegen das Projekt Astronautensonne regt sich rasch Widerstand. Umweltschutz-Aktivistin Jennifer Jordan und ihre Gruppe Weltwacht befürchten durch die zweite Sonne gravierende Umweltveränderungen auf der Erde. Als dann noch Martin Seebeck bei einer Recherche urplötzlich verschwindet und der Militärische Sicherheitsdienst (MSD) auffälliges Interesse am Gelingen des Projektes Astronautensonne zeigt, spürt Brandis, dass an der Sache was faul ist.
(24) Astronautensonne
€12,00
Mark Brandis, Band 24
Paperback, 168 Seiten
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 01
»Festhalten, Sir!«
Die Stimme des jungen Sergeanten im Cockpit der Cobra, der zu seiner astralblauen Uniform der Luftpolizei das silberne Abzeichen einer bekannten Kunstflugstaffel trug, klang plötzlich schrill.
Am Handläufer des Pilotensitzes klammerte ich mich an.
Es war schlimmer, als ich befürchtet hatte.
Viel schlimmer.
Aus den Rempeleien, die – von mir in der vornehmen Abgeschiedenheit des Fünfsternehotels Semiramis kaum wahrgenommen – am Tag zuvor begonnen hatten, war eine offene Schlacht zwischen meist jugendlichen Demonstranten und den Sicherheitsorganen der Venus geworden. Die Gegner des Projekts Astronautensonne hatten ihre Drohung, am 13. Februar 2085 den Ozongürtel über den Towns zu besetzen, wahrgemacht.
Zwei Meilen vor dem Raumhafen stieß die Polizei-Cobra, in der ich mich als Passagier befand, in einen wahren Hagelsturm aus leeren Flaschen, armdicken Metallbolzen, mit Sand gefüllten Konservendosen und rostigem Schrott.
Der Sergeant wandte mir sein schweißüberströmtes Gesicht zu. »Die bringen uns glatt um, Sir!«
Die Demonstranten hatten erreicht, was sie sich von der Besetzung des Ozongürtels versprachen. Der Verkehr im Luftraum ruhte. Alle Taxiflüge waren eingestellt. Um dennoch zu meinem Schiff zu gelangen, war ich auf die Polizei angewiesen. Sie hatte mir, da für die Henri Dunant ein Notruf vorlag, kurzerhand diese Cobra geschickt – mit einem ihrer besten Piloten.
»Ich an Ihrer Stelle, Sergeant, würde versuchen, nach oben durchzubrechen.«
Der Sergeant deutete mit einem knappen Nicken Zustimmung an.
»Was anderes bleibt uns nicht, Sir – oder die Bande macht Hackfleisch aus uns.«
Die Besetzung des Ozongürtels war offensichtlich von langer Hand vorbereitet. Die dafür erforderlichen Einmann-Fluggeräte, ein paar hundert – vom vorsintflutlichen Skyrider bis hin zum hypermodernen, durch einen Minireaktor angetriebenen Ikarus aus Heeresbeständen war alles vertreten –, stammten gewiß nicht allein aus den Beständen der Towns, sondern waren eigens für diesen Tag in allen Teilen der EAAU zusammengeklaubt worden, in Europa, Afrika und Amerika. Die düsengetriebenen Demonstranten mit ihren umgehängten Munitionsbeuteln waren praktisch überall. Nach vorn gab es für die Cobra kein Durchkommen. Ein Dutzend Projektgegner sperrte den Luftraum mit Hilfe eines Netzes und eines riesigen Transparentes. Die Parole lautete:
HÄNDE WEG VOM TITAN!
Zugleich überschüttete uns der andere Pulk, der uns im Genick saß, mit seinen gefährlichen Wurfgeschossen. Bei jedem Treffer ging ein kurzes, hartes Beben durch die Cobra. Eine dritte Gruppe schließlich hatte sich fächerförmig hinter dem Heck postiert, um uns den Rückzug abzuschneiden.
»Ich wünschte, ich dürfte so, wie ich möchte! Das sind doch keine Menschen mehr!« Der Sergeant zeigte mir zwei zu Pistolenläufen ausgestreckte Finger. Erneut klang seine Stimme schrill. Der Haß raubte ihm den Atem. »Warum gehen sie nicht vors Gericht, wenn ihnen die Sache nicht paßt? Stattdessen lassen sie sich aufwiegeln von dieser Indianersquaw, dieser Jennifer Jordan, und der ganzen elenden Weltwacht! Ich wüßte schon, was ich mit dem Gesindel täte.«
Die Hand des Sergeanten fiel zurück auf das Steuer. »Achtung, Sir, es geht los!«
Im Schwarm über uns zeigte sich die erhoffte Lücke. Die Cobra stand plötzlich auf dem Schwanz, und das Triebwerk reagierte auf das brutale Manöver mit kreischendem Protest. Der Schub, als die Cobra Fahrt aufnahm, warf mich in das Polster zurück. Vor dem Cockpit gähnte dunkel und unergründlich der leere Raum, der sich übergangslos an den hauchdünnen Ozongürtel der Venus anschließt.
Die Überrumpelung gelang. Die Cobra brach durch die blockierenden Linien. Ich sah geballte Fäuste und drohend erhobene Brechstangen. Ich sah ein junges Mädchen mit flatterndem Haar, das eine Art Katapult spannte. Mit dumpfem Schmatzen zersplitterte im Cockpit die rechte obere Scheibe und überschüttete mich mit mehlfeinem Glasstaub.
Die Cobra taumelte, verfolgt vom Triumphgeheul der Demonstranten. Der Pilot war damit beschäftigt, sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, das ihm die Sicht nahm. Quer über seine Stirn zog sich eine klaffende Wunde. Er fluchte und beeilte sich, die Maschine wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Pack, elendes!«
Seine Erbitterung war verständlich. Ebensogut hätte er tot sein können. Ich beugte mich vor. Das Armaturenbrett glich einem Trümmerhaufen. Der Aufprall eines Wurfbolzens hatte das Fluggerät fast in eine ungesteuerte Sternschnuppe verwandelt. Zorn überkam mich.
Als ich das Hotel verließ, hatte ich mit den üblichen Protesten und Behinderungen gerechnet, nicht jedoch mit brutaler Gewalt, die vor nichts zurückschreckte, auch nicht vor Mord und Totschlag. Und alles das: wofür, weshalb? Zur Verteidigung des weltweit entfernten Mondes eines fernen, fremden Planeten? Zum Schutz eines Stückes staubiger, unfruchtbarer, lebensfeindlicher Materie am Rande unseres Sonnensystems? Der Himmel war mein Zeuge: ich kannte den Titan! Wer von diesen jungen Menschen jedoch hatte ihn schon mit eigenen Augen gesehen? Dennoch hatten sie unser Leben aufs Spiel gesetzt.
»Wenn Sie wollen, löse ich Sie ab, Sergeant.«
Der Sergeant wandte sich kurz nach mir um. Sein Gesicht war abweisend.
»Eine Cobra ist kein Raumkreuzer, Sir.«
Trotz unserer schwierigen Lage kam mir das Lachen. Ich unterdrückte es. Der junge Mann konnte nicht wissen, was alles ich hatte fliegen müssen: damals, als ich noch Testpilot im Dienst der VEGA war.
»Wahrscheinlich haben Sie recht, Sergeant.«
Der Sergeant deutete mit der blutbeschmierten Hand voraus.
»Außerdem sind wir gleich da. Hauptsache, wir bekommen einen Platz zum Landen. Die Kiste läßt sich kaum noch steuern.«
Seine Sorge war vollauf berechtigt. Die eigentliche Schlacht dieses Tages wurde auf festem Boden ausgetragen. Rings um den Raumhafen waren die Heerscharen der Projektgegner aufmarschiert. Das Rampengelände, auf dem das Flaggschiff der Unabhängigen Gesellschaft zur Rettung Raumschiffbrüchiger (UGzRR), die Henri Dunant, seit über einer Stunde in startklarem Zustand auf mein Eintreffen wartete, glich einem auseinanderbrechenden Atoll in einem orkangepeitschten Ozean. Den Demonstranten war es gelungen, an mehreren Stellen die Absperrungen zu durchbrechen. Eine Polizei-Cobra und ein Raumfrachter standen in Flammen. Schwarzer Rauch lag über dem Gelände. Die Tausendschaft der Venus-Polizei, die zum Schutz des Raumhafens aufmarschiert war, hielt nur noch die strategisch wichtigen Punkte besetzt: die Rampen, das Hauptgebäude und die Werft. Vor den Beamten erhob sich ein Wald von Transparenten, Spruchbändern und Tafeln. Einige davon ließen sich selbst auf die Entfernung hin entziffern.
KUNSTSONNEN SIND ERDKILLER, lautete eine der Parolen, und, mir bereits bekannt, HÄNDE WEG VOM TITAN eine weitere. Eine dritte schließlich stellte einen absonderlichen Zusammenhang her:
SOLL DER KOSMOS-TRUST ERBEBEN! AUCH DIE ERDE MÖCHTE LEBEN!
Der Sergeant griff zum Mikrofon.
»Schlangengrube – Cobra Nadazero Nadazero Pantafive. Mich hat‘s erwischt. Frage: Wo kann ich aufsetzen? Over.«
Im Lautsprecher meldete sich eine blecherne Stimme: die der Einsatzleitung.
»Cobra Nadazero Nadazero Pantafive: Roger. Frage: Ist der Passagier wohlauf? Over.«
»Passagier ist wohlauf und möchte von Bord gehen. Over.«
»Roger, Cobra Nadazero Nadazero Pantafive. Nehmen Sie Kurs auf Eingang Martha. Wir räumen für Sie das Vorgelände. Das kann ein paar Minuten dauern. Over.«
Eingang Martha, eine unscheinbare Automatiktür im Ostflügel des Hauptgebäudes, durch die man direkt zur Abfertigung gelangte, war dem fliegenden Personal vorbehalten.
»Roger. Eingang Martha. Ich wartete darauf, daß Sie mich einweisen.« Der Sergeant fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, zwinkerte mit den Augen, legte die Cobra hart auf die Seite und ließ sie zugleich an Höhe verlieren. Wir waren über den Rampen. Der gedrungene, bullig anmutende Rumpf der Henri Dunant mit dem Emblem der UGzRR – auf weißer Flagge ein rotes Johanniterkreuz im gelben Sonnenball – huschte vorüber und hüllte sich erneut in fettigen Rauch. Vor dem Eingang Martha waren die Fronten in Bewegung. Eine Polizei-Hundertschaft drängte die Demonstranten zurück. Die Beamten steckten in Rüstungen aus PARFEU X, einem feuerunempfindlichen, enorm resistenten und doch federleichten Kunststoff, der auch einen Bolzenwurf noch abfederte, ohne daß man Schaden nahm. Ihre Bewaffnung bestand aus elektronischen Keulen, deren Treffer erbärmliche Schmerzen verursachen und zu Schwellungen und teilweise zu Lähmungen führen. Zum ersten Mal erlebte ich diese neuartige Polizeiwaffe im Einsatz. Auf beiden Seiten wurde die Brutalität offenbar höher geschraubt.
Im Cockpit machte sich ein bitterer Geruch bemerkbar. Der Sergeant wies auf einen feinen Rauchfaden, der aus dem geborstenen Armaturenbrett stieg.
»Kurzschluß, Sir. Wollens hoffen, daß es bei einem Schwelbrand bleibt. Übrigens, was ist denn das für ein Notruf, für den Sie Kopf und Kragen riskieren?«
Ich war es gewohnt, komplizierte Sachverhalte in dürre Worte zu kleiden.
»Ein VOR-Frachter. Die Crew hat ihn nach einer Explosion aufgegeben und ist ausgestiegen.«
»Ich verstehe. Wenn Sie nicht beizeiten eintreffen ...«
Der Sergeant drosselte das Triebwerk und bezog über dem Kampfgetümmel Warteposition. Vorerst bestand für die Cobra keine Gefahr. Eine fliegende Schar der Projektgegner, die auf uns zuhielt, wurde in Höhe des Towers gerade von einer fliegenden Polizeischwadron gestoppt und in ein Handgemenge verwickelt. Die Polizisten setzten auch in diesem Fall elektronische Keulen ein, die Demonstranten Katapulte.
Ich dachte an vier einsame Menschen in der Eises-kälte des unendlichen Weltraumes. Falls die Henri Dunant nicht beizeiten eintraf, waren sie verloren. Sie vor dem Tod zu bewahren, war meine Aufgabe. Der Streit um den Saturnmond ging mich nichts an.
Im Lautsprecher erklang die blecherne Stimme.
»Cobra Nadazero Nadazero Pantafive. Sie können jetzt landen. Ich wiederhole: Sie können jetzt landen. Over.« Der Sergeant hob das Mikrofon vor das blutverkrustete Gesicht.
»Schlangengrube – Cobra Nadazero Nadazero Pantafive. Roger. Ich setze auf.«
Der Platz vor dem Eingang Martha war geräumt. Die elektronischen Keulen hatten ihre Schuldigkeit getan – zumindest für den Augenblick. Ein paar versprengte Demonstranten konnten sich gerade noch humpelnd und kriechend in Sicherheit bringen, als die Cobra mit fauchendem Triebwerk zur Landung ansetzte. Der Düsenlärm wurde von den Wänden des Hauptgebäudes zurückgeworfen und schwoll zu ohrenbetäubender Lautstärke an. Der Sturmwind zerrte an den Spruchbändern und Transparenten. Dann berührte die Cobra den Boden, und das Triebwerk verstummte. In die jähe Stille hinein fiel das Wutgeschrei der Demonstranten. Der Sergeant entriegelte den Einstieg.
»Beeilen Sie sich, Sir.«
Ich berührte seine Schulter. »Danke, Sergeant.«
Dann zwängte ich mich ins Freie und rannte los: dem rettenden Vordach entgegen. Ein Hagel von Wurfgeschossen fegte wie ein tropisches Unwetter hinter mir her.
Unter dem Vordach hatte eine Handvoll Polizeioffiziere Stellung bezogen. Ein paar Meter weiter, in der Cafeteria des Fliegenden Personals, befand sich die Einsatzleitung. Hinter gesprungenen Scheiben erkannte ich das hochmütige Adlergesicht des Polizeigenerals Bloch. Der General war damit beschäftigt, einem verärgert blickenden, auffallend blassen Mann in grauem Zivil die Lage zu erklären. Der Graue wedelte verächtlich mit der Hand.
»Jemand, den man kennen muß?« Unter dem Vordach war ich in Sicherheit und schnappte nach Luft. »Dieser Mensch in Zivil.«
Captain Tiomkin von der Sicherungsgruppe Raumhafen, ein alter Bekannter, hob die knochigen Schultern. »Sein Name ist Kellermann, Commander. Sonst weiß ich nur, daß er einen Haufen Vollmachten hat. Er will, daß wir die Rädelsführer dingfest machen: ein frommer Wunsch.«
Das blasse Gesicht hinter der geborstenen Scheibe war mir plötzlich zugekehrt. Ich fühlte mich von Kopf bis Fuß gemustert.
»Wen vertritt er: die Regierung?«
Captain Tiomkin wiegte das graue Haupt.
»Angeblich bezieht er sein Gehalt von Kosmos-Trust. Ist ja auch egal. Hauptsache, er hört endlich auf, uns ins Handwerk zu pfuschen.«
Bis unter das Vordach war ich gelangt. Nun mußte ich warten. Der Eingang war vorübergehend blockiert. TV-Techniker in Polizeioveralls installierten dahinter eine Monitorenwand. Bei aller Eile hatte ich Zeit, den Ereignissen auf den Grund zu gehen.
»Was ist eigentlich los? Geht es wirklich nur um den Titan?«
Captain Tiomkim klaubte mir mit spitzen Fingern einen Glassplitter von der Schulter.
»Angeblich haben die Spinner in Erfahrung gebracht, daß dieser Tage eine Schiffsladung kritischer Masse zum Titan abgeht – von hier aus. Angeblich halten sie es für ihre Pflicht, das zu verhindern.« Captain Tiomkin wartete meine Frage gar nicht erst ab. »Uns«, sagte er, »liegt keine diesbezügliche Meldung vor. Das Ganze ist ein übles Gerücht, um die Leute in Panik zu versetzen. Wer dahintersteckt, ist wohl klar. Wenn es nach mir ginge, wäre die Weltwacht längst ein verbotener Verein – und die Jordan säße hinter Gittern. Mit dieser Kampagne gegen das Projekt Astronautensonne will sie sich lediglich in den Vordergrund spielen.«
Ich stimmte dem alten Haudegen weder zu, noch widersprach ich ihm. In einem Punkt hatte er recht: Um die Weltwacht war es in den letzten Jahren erst einmal recht still gewesen. Aber im Zusammenhang mit der von der Firmengruppe Kosmos-Trust betriebenen Kolonisierung des Saturns machte sie erneut von sich reden, und Jennifer Jordan, die bis vor kurzem noch einen höheren Beamtenposten im Ministerium für planetarische Besiedelung (MPB) bekleidet hatte, war eine ihrer lautesten Stimmen.
Der zweitgrößte Planet des Sonnensystems war zum Zankapfel geworden. Ungeachtet der Tatsache, daß er bisher lediglich von unbemannten Sonden erkundet worden war, lag für ihn ein von Kosmos-Trust erstellter Bebauungsplan vor. Auf der Basis von schier unerschöpflichen Rohstoffen, die auf der Erde kaum noch zu finden waren, sah dieser Plan die Errichtung zahlreicher Industrien vor mit den dazu gehörenden Siedlungen. Die Sache versprach, das Geschäft des Jahrhunderts zu werden. Der Verkauf der Grundstücke war in vollem Gange, und die Kosmos-Trust-Aktien waren begehrte Anlageobjekte.
Eine Pioniertat der Technik zeichnete sich ab. Generationen hindurch hatte die Kolonisierung des Saturns als unmöglich gegolten: nicht zuletzt wegen des ihn umgebenden Eisgürtels. Um so bestechender war die Methode, mit der die Ingenieure von Kosmos-Trust an die Aufgabe herangingen. Ihr Plan sah nicht mehr und nicht weniger vor, als auf dem Planeten eine klimatische Revolution hervorzurufen und das beim Abschmelzen des Eisgürtels gewonnene Regenwasser zur Fruchtbarmachung der Wüsten zu benutzen. Erforderlich dazu war eine kosmische Wärmequelle, und auf der Suche danach war die Wahl auf den Titan gefallen, einen der zahlreichen Saturnmonde. Mit Hilfe von Vulkanit, einem synthetischen Produkt, und kritischer Masse sollte der Mond in eine künstliche Sonne mit einer Brenndauer von mindestens 145 Jahren verwandelt werden. An der Verwirklichung dieses Planes, das unter der Projektbezeichnung ASTRONAUTENSONNE lief, wurde mit Nachdruck gearbeitet.
Befürchtungen, das Projekt könnte kosmische Nebenwirkungen haben, die unter anderem auch die Erde in Mitleidenschaft ziehen würden, wurde von Kosmos-Trust entschieden zurückgewiesen. Um völlig sicherzugehen, hatte das Parlament, bevor es dem Projekt durch Gesetz seine Zustimmung gab, die drei bedeutendsten Fachleute auf dem Gebiet der Astrophysik – die Professoren Trofimow, Moskau, Molière, Paris, und Friedman, New York gehört. Da keiner von ihnen Bedenken anzumelden hatte, bekam Kosmos-Trust grünes Licht.
Die Bedenken der Umweltschützer waren durch diese Gutachten nicht ausgeräumt. Es hatte friedliche Demonstrationen und Protestmärsche gegeben, und die Weltwacht war immer dabei gewesen; nun jedoch, da das Datum der Zündung der künstlichen Sonne heranrückte, nahm der Widerstand der Projektgegner mehr und mehr bürgerkriegsähnliche Formen an.
Die Polizisten im Overall gaben mir den Weg frei. Ich kam nicht weit. Die Büroräume der Abfertigung glichen den Kasematten einer belagerten Festung: Gefechts-stäbe, Befehlsübermittler, Verbandsplätze. Polizisten, Sanitäter, Ärzte. Ein Gendarmerieleutnant trat mir in den Weg und verlangte meinen Ausweis. Er reichte ihn weiter an den blassen Mann in Zivil. Dieser studierte ihn und gab ihn mir zurück.
»UGzRR, richtig. Ihr Start ist freigegeben, Commander, aber vorerst können Sie nicht zu Ihrem Schiff.«
Kellermann wandte sich ab. Seine Stimme war sanft und weich wie eine Katzenpfote, die Krallen waren lediglich zu ahnen.
Ursache der neuerlichen Verzögerung war der Brand auf dem Rampengelände. Feuerwehrleute mit Atemschutzgeräten waren damit beschäftigt, die giftigen Rauchschwaden abzusaugen, die über dem Platz lagen. Ein TV-Team kam gerannt und baute die Geräte auf. Ich erkannte Isaak Kronstein von der Stella-TV, einen weltweit bekannten Reporter. Er erspähte mich und nahm mich sofort aufs Korn.
»... und hier ist auch Commander Mark Brandis, der Erste Vormann der Unabhängigen Gesellschaft zur Rettung Raumschiffbrüchiger, einer unserer erfahrensten Astronauten und, wie man so sagt, ein alter Hase unter den Sternen. Vor zwölf ... nein, vor dreizehn Jahren unternahm er eine aufsehenerregende Rettungsexpedition zum Uranus, damals, als dieser Planet noch ein weißer Fleck auf der astralen Landkarte war ...
Kronstein kam zur Sache.
»Eine Frage, Commander: Wie lautet Ihr Kommentar zu den Ereignissen dieses Tages?«
Die Kamera lief. Kronstein hatte mich überrumpelt.
»Ich bin bestürzt«, sagte ich, »und ich kann nur hoffen, daß dieses Beispiel nicht Schule macht. Ansonsten stünde es schlimm um die EAAU.«
Kronstein ließ nicht locker.
»Gerade eben hat Jennifer Jordan bekanntgegeben, daß sie mit ihren Anhängern den Titan besetzen wird, um die Versonnung zu verhindern. Wie stellen Sie sich, ein Mann der astralen Praxis, dazu?«
Ich dachte an vier verzweifelte Menschen im Weltraum. Ohne diesen Krawall wäre ich längst zu ihnen auf dem Weg gewesen.
»Jennifer Jordan«, erwiderte ich, »hat seit jeher eine Vorliebe für theatralische Effekte gehabt. Theater ist Theater. Mehr nicht.«
Kronstein hakte nach.
»Wenn ich Sie recht verstehe, Commander, ziehen Sie nicht in Erwägung, daß die Weltwacht in dieser Titan-Affäre möglicherweise recht haben könnte?«
»Dazu besteht kein Anlaß.«
»Nun, ich will Ihnen nicht verhehlen, Commander – ich habe mit etlichen ihrer Kollegen gesprochen, gestandene Astronauten auch sie, die durchaus ihre Zweifel haben.«
Der Weg zur Henri Dunant war endlich frei. Die Feuer-wehren räumten das Feld. Ein Polizist machte mich darauf aufmerksam. Ich nahm mir gerade noch die Zeit, auf Kronsteins verschleierte Herausforderung zu antworten.
»Das Projekt Astronautensonne«, entgegnete ich, »ist wissenschaftlich abgesichert und steht unter Billigung des Gesetzes. Ich glaube nicht, daß Jennifer Jordan mehr von der Astrophysik versteht als die vom Parlament bestellten Gutachter. Und nun entschuldigen Sie mich ...«
Die Beamten, die den Ausgang zu den Rampen sicherten, öffneten mir eine Gasse. Ein uniformiertes Milchgesicht quetschte mir die Hand.
»Hals- und Beinbruch, Commander. Wenn ich Sie wäre – ich bliebe in Deckung.«
Wäre er wirklich in Deckung geblieben – an meiner Stelle? Wahrscheinlich war das nur eine Floskel. Ich rannte los, quer über das Rampengelände. Ein widerlich süßer Geruch lag in der Luft: Kadavergestank eines verschmorten Schiffes. Der Frachter, ein unförmiges Wrack, schwelte noch immer, aber Polizei und Feuerwehr waren wieder Herr der Lage. Versprengte Demonstranten wurden eingekreist, überwältigt und abgeführt. Der Beton unter meinen Füßen war naß und schmierig. Ich rannte um einen umgestürzten Transporter herum, der den Angreifern als Barrikade gedient hatte, und der Himmel über mir verwandelte sich urplötzlich in eine johlende Hölle.
Einem Pulk fliegender Projektgegner war es gelungen, den Polizeikordon über den Rampen zu durchbrechen. Ein Hagel von Wurfgeschossen ging auf mich nieder. Wofür hielt man mich?
Der gelbrote Overall der UGzRR, den ich an diesem Tag mit Vorbedacht trug, unterschied mich deutlich von den Polizisten. Auch Frachtpiloten pflegten anders auszusehen.
Auf dem schmierigen Beton schlug ich Haken wie ein gehetzter Hase, während es rings um mich Schrott und Flaschen regnete. Was zum Teufel hatte ich mit der Astronautensonne zu tun? Auf der Venus war ich lediglich zwischengelandet, um die Brennkammern der Henri Dunant mit frischem Uranit zu bestücken. Mit dem Transport der kritischen Masse hatte ich nichts zu tun. Mit der ganzen verdammten Titan-Sache hatte ich nichts zu schaffen.
Die Luft begann zu vibrieren. Ich sah auf. Zwei besonders dreiste Demonstranten waren zu mir herabgestoßen und versuchten nun, mich unter den Armen zu packen und hochzureißen. Ich duckte mich und bewirkte damit, daß sie mit aller Wucht zusammenstießen. Einem gelang es zu landen. Bevor er wieder aufsteigen konnte, wurde er von einem beherzten Beamten überwältigt. Der andere bohrte sich im Horizontalflug in die Frontscheibe des umgekippten Transporters und blieb schreiend darin stecken.
Ich rannte um die Rampe herum und hatte die Gangway vor mir. Sekunden später war ich an Bord und in Sicherheit. Die Henri Dunant war ein solides Schlechtwetterschiff, in Meteoritenstürmen erprobt.
Mit Flaschen, Bolzen und Konservendosen war ihr kein Schaden zuzufügen. Lieutenant Stroganow, mein langjähriger Navigator, ein grauhaariger, breitschultriger Sibiriak, verriegelte hinter mir die Schleuse, bevor er sagte: »Weiß Gott, Sir, wir fürchteten schon, die Bande bringt Sie um.«
Ich war noch einmal davongekommen. Das uniformierte Milchgesicht hatte zu Recht Bedenken gehabt. Keuchend wischte ich mir den Schweiß aus dem Gesicht. Die Bewegung bereitete mir Schmerzen. Die rechte Schulter hatte etwas abbekommen. Während ich um mein Leben rannte, hatte ich den Schlag kaum wahrgenommen. Nun, untersuchen würde ich die Schulter später. Vorerst hatte ich Wichtigeres zu tun.
»Alles klar, Lieutenant?«
»Der letzte Check steht noch aus.«
Den letzten Check vor dem Start vorzunehmen war Sache des Commanders.
»Und die VORs?«
»Das Letzte, was wir von ihnen gehört haben, ist eine vage Position. Hotel India Tango. Wir werden den halben Himmel umkrempeln müssen, Sir.«
Und auch den ganzen, dachte ich, wenn es so sein müßte. Das wenigstens war ein Lichtblick in freudloser Zeit: Für die Schiffe der UGzRR gab es keine Grenzen und keine verfeindeten Machtblöcke. Die UGzRR war autonom. Sie leistete Hilfe, wann und wo immer diese verlangt wurde: für einen havarierten Musikdampfer der EAAU ebenso wie für einen schäbigen Raumfrachter der Vereinigten Orientalischen Republiken. Oder umgekehrt.
Die Besatzung des Raumrettungskreuzers Henri Dunant war ein Spiegel des Geistes, der in der UGzRR herrschte. Captess Yodogimi Kato, meine verantwortliche Pilotin und rechte Hand, stammte aus Hiroshima in Japan. Wer sie nicht näher kannte, ließ sich durch ihr Porzellangesicht leicht täuschen. Dahinter steckten Kaltblütigkeit und eine gehörige Portion fliegerischer Erfahrung. Captess Kato sprach ein nahezu akzentfreies Metro. Nur manchmal vergriff sie sich in der Wortwahl. Ich nickte ihr zu und rief die Stationen auf.
»Bitte um die Klarschiffmeldungen. Kartenhaus!«
Im Lautsprecher meldete sich die ruhige Baßstimme des Navigators:
»Klar zum Abheben, Sir.«
»TÜ!«
Auch der Technische Überwachungsstand – im Bordjargon: Maschinenraum – meldete sich auf Anhieb.
Lieutenant William Xuma, schwarzhäutig, einer der besten Ingenieure, mit denen ich je geflogen war, hatte das Triebwerk bereits vorgewärmt.
»Klar zum Abheben, Sir.«
»RC!«
Der rothaarige Radar-Controller trug nicht nur einen waschechten irischen Namen – O’Brien –, er sprach auch mit unverfälschtem Dialekt:
»Klar zum Abheben, Sir.«
»FK!«
Israel Levys Stimme erklang: kühl und sachlich. Sprechdisziplin war im interplanetarischen Funkverkehr unerläßlich.
»Klar zum Abheben, Sir.«
Ich wandte den Kopf nach rechts. Captess Kato zog das Handruder an sich heran. Sie kam meiner Frage zuvor.
»Klar zum Abheben, Sir.«
Die Henri Dunant war klar zum Abheben, doch der Tower zögerte die endgültige Freigabe hinaus. Die Polizei war noch damit beschäftigt, den Luftraum über den Rampen zu säubern.
Nach sechs qualvollen Minuten fiel das erlösende: »Henri Dunant – Venus-Tower. Hauen Sie ab. Und Mast-und Schotbruch!« Während die Henri Dunant langsam abhob, übersah man noch einmal das Panorama der Schlacht.
Captess Kato schüttelte den Kopf und bemerkte: »Vor ein paar Tagen noch hatten diese Weltwacht-Leute meine Sympathie. Aber jetzt sage ich: Wie die sich benehmen, ist eine Entehrung des Pavians.«
Ich fuhr herum und starrte sie an. »Ist was?«
»Ist eine Entehrung des Pavians!« wiederholte Captess Kato. »Oder sagt man nicht so?«
Lieutenant Stroganow rettete die Situation. Er hatte in seinem Kartenhaus über die Bordsprechanlage mitgehört. Aufgewachsen in einem europäisch-asiatischen Grenzgebiet, stand er mit Captess Katos Bemühungen, unserem trockenen Metro einen Schimmer von orientalischer Blumigkeit zu verleihen, auf vertrautem Fuß. Aus dem Lautsprecher dröhnte seine Stimme:
»Captess Kato meint einfach: Was da passiert, ist eine Affenschande. Und ich möchte hinzufügen, Sir: Sie hat recht.«
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