Der Asteroid Ikarus soll in eine Erdumlaufbahn verholt werden. Doch ein Rechenfehler läßt ihn der Erde entgegenstürzen. Kurz von dem Einschlag wird der Himmelskörper gesprengt. Eine Hülle aus Staub legt sich um die Erde und verursacht einen nuklearen Winter. Die Versorgung bricht zusammen und die Erde versinkt in Anarchie und Chaos. Mark Brandis soll aus einem geheimen Militärlager Lebensmittel holen und so die ärgste Not der Bewohner von Metropolis lindern. Doch kosmische Widrigkeiten, sowie hungernde Marodeure bedrohen die Flotte. Der Transportflug gerät zu einem Himmelfahrtskommando.
(28) Metropolis-Konvoi
€6,99
Mark Brandis, Band 28
Ebook, 169 Seiten, Format Epub
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 1
8.5.
»Sehen Sie sich nachher auch die Verlagerung an, Commander? Stella-TV hat eigens ein Aufnahmeschiff zum Ikarus entsandt.«
»Um achtzehn Uhr werde ich wohl schon an Bord der Astoria sein, Mr. Weiss, leider.«
»Sechzehn Uhr dreißig, Commander. Sie sind nicht auf dem laufenden. Man hat die kritische Phase vorverlegt. Offenbar stimmte etwas mit der ursprünglichen Berechnung nicht. Jetzt heißt es: sechzehn Uhr dreißig.«
»Möglich, daß ich einen Blick darauf werfe.«
»Aber bestimmt, Commander! Verlagerungen dieser Größenordnung bekommt man schließlich nicht alle Tage auf dem Bildschirm zu sehen.«
Auf die bevorstehende Verlagerung des Planetoiden Ikarus, auf dem die Black Diamond Inc. eine gewinnträchtige Diamantmine betrieb, war ich an diesem Tag schon wiederholt angesprochen worden. Aus abbautechnischen Gründen sollte der Ikarus aus seiner angestammten Bahn in eine Umlaufbahn um die Erde verlegt werden: direkt vor die Haustür. Wenn alles nach Plan verlief, würde er dort nächstens als ein zweiter Mond zu sehen sein.
Zwei Jahre zuvor war ein erster Versuch – ich war unfreiwillig dabei gewesen – unter spektakulären Umständen gescheitert.
Albert Weiss, der Technische Direktor der VEGA-Werft, warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Uhr: eine ebenso dezente wie unmißverständliche Art, jemanden zur Eile anzutreiben.
Wir standen auf dem Gerüst, das sich um den Neubau des siebten Rettungskreuzers der UGzRR-Flotte spannte, und die atlantische Brise, die an uns zerrte, roch nach Salz und Frühling.
Noch einmal zeigte sich die Erde in all ihrer vielfältigen Schönheit.
Der Tag, an dem die Große Katastrophe begann, war lau und voller Sonne. Und der Schaumkranz der atlantischen Brandung rings um die gigantischste künstliche Insel, die je eines Menschen Hirn kühn ersonnen hat, wetteiferte unter dem Lapislazuli-Blau des Himmels mit dem üppigen Weiß der blühenden Kirschen und Magnolien in den kunstvollen Parklandschaften der 50-Millionenstadt.
Im nassen Dreieck zwischen den Kontinenten Europa, Amerika und Afrika errichtet, war Metropolis nicht nur die politische und wirtschaftliche Hauptstadt der Europäisch-Amerikanisch-Afrikanischen Union (EAAU), sondern darüber hinaus auch das architektonische Symbol einer neuen kulturellen Partnerschaft.
Ein Dichter hatte einmal in bezug auf Metropolis gesagt: Europa hat die Geschichte geliefert, Amerika Wagemut und Kühnheit – und Afrika den hämmernden Rhythmus des Lebens.
Das Venedig des 21. Jahrhunderts hatte man Metropolis getauft – und in der Tat, nur mit der versunkenen Perle der Adria ließ sich die Hauptstadt der Drei Vereinigten Kontinente vergleichen. Wohlweislich hatte man, als die Stadt entworfen wurde, die Schwerindustrie aus ihr herausgehalten, so daß ihre architektonische Schönheit durch keinerlei Rauch und Abgase verschleiert wurde. Gleich jener vielbesungenen Königin der Meere war sie ein Treffpunkt der Künstler und Dichter geworden, und die kulturellen und geistigen Impulse, die von ihr ausstrahlten, beeinflußten das Leben der Menschen in drei verschiedenen Erdteilen.
Metropolis verfügte über sechzig Theater und Opernhäuser, über vierunddreißig Konzerthallen, über mehr als hundert Museen und – was vielleicht das Wichtigste war – über fünfundzwanzig Universitäten, die zugleich Forschungsstätten waren. In dieser Stadt, die nie zu schlafen schien, erschienen achtundvierzig verschiedene Zeitungen, wetteiferten zwölf Fernsehanstalten miteinander. In der Stadt selbst vergaß man nur allzu rasch, daß sie ein sorgfältig geplantes, am Reißbrett konzipiertes, künstliches Gebilde war. Millionen Kubikmeter Erde bedeckten den Untergrund aus salzwasserfestem Beton; Gärten, Parkanlagen und schattige Alleen waren entstanden: Technik und Natur waren eins geworden.
Eine Woche zuvor war ich nach Metropolis gekommen, um in meiner Eigenschaft als Erster Vormann der UGzRR die zweite Ausbaustufe der Fridtjof Nansen abzunehmen, für die ich die erforderlichen Gelder mühsam erkämpft hatte. Ein zusätzlicher Grund meiner Reise war es gewesen, den Vorstand der UGzRR dafür zu erwärmen, das neue Schiff mit einem Mann meines Vertrauens als Vormann zu besetzen – genau gesagt, mit Henry Mboya, der früher einmal als Bordingenieur unter mir geflogen war und mittlerweile auch den von zwei Schwingen gehaltenen Stern des examinierten Piloten trug.
Für Konsul Lapierre, den Justitiar und diplomatischen Vertreter der Gesellschaft, der sich auf einer Geschäftsreise irgendwo befand, hatte ich eine ausführliche schriftliche Begründung meines Personalwunsches hinterlegt. Unter anderem hatte ich geschrieben: Man darf nicht übersehen, daß der Dienst auf einem Rettungskreuzer unter den Sternen moralische und charakterliche Anforderungen an einen Vormann stellt, denen man durch fachliche Qualifikation allein nicht gewachsen ist ...
»Noch Fragen, Commander?« Weiss drückte auf den Fahrstuhlknopf. »Ansonsten ...«
Die wenigen Punkte, die ich zu beanstanden gehabt hatte, waren bereits notiert. Im Prinzip gab es nichts auszusetzen, weder am Material noch an seiner Verarbeitung. Die Werft der VEGA, dieses halbautonomen raumfahrttechnischen Mammutkonzerns, zu dem die Erde-Venus, Gesellschaft für Astronautik, binnen der Jahrzehnte angewachsen war, stand konkurrenzlos da. Fast alle Prototypen der Astro-Flotten waren hier entstanden. Daß auch die Fridtjof Nansen hier gebaut wurde, war einzig und allein dem besonderen Entgegenkommen des VEGA-Direktors John Harris zu verdanken, meines ehemaligen Chefs.
»Geben Sie mir das Protokoll. Ich unterschreibe.«
»Im Büro.«
Der Fahrstuhl brachte uns auf die Erde zurück.
»Und wie ist das mit der Überführung nach Fertigstellung, Commander, ich meine, nach Las Lunas?«
»Den Piloten der Fridtjof Nansen haben Sie neulich kennengelernt.«
»Ach, dieser baumlange Kalifornier?«
»Lieutenant Fairbanks ist Kanadier, Mr. Weiss.«
»Richtig. Und der holt die Kiste ab?«
»Entweder er allein. Oder zusammen mit Captain Mboya, falls dessen Bestallung zum Vormann bis dahin durch ist.«
»Ziemlich bürokratischer Verein, Ihre UGzRR, oder?«
»Nur der Vorstand. Unter den Sternen sieht’s ganz anders aus.«
»Tatsächlich?«
»Besuchen Sie uns doch mal.«
Weiss zeigte mir ein gequältes Lächeln.
»Ich baue Schiffe, Commander. Sie zu fliegen überlasse ich anderen. Einmal und nicht wieder.«
»Und warum?«
»Ich werde raumkrank – und das mit allen Schikanen. Was ich damals gelitten habe, will ich nicht noch einmal durchmachen.«
Im Büro unterschrieb ich das Protokoll, drückte Mr. Weiss die Hand und begab mich zum Platztaxi, das draußen soeben vorfuhr.
Ein Schatten huschte über mich hinweg. Ich blickte hoch. Eine Möwe war mit gespreizten Schwingen vor der Sonne durchgezogen.
Das Blau des Himmels über Metropolis zeigte freundliche weiße Sprenkel.
Die Große Katastrophe war nirgends in Sicht.
Der Fahrer kletterte mit den gemessenen Bewegungen eines alten Herrn aus dem Wagen und hielt für mich den Schlag auf. Die meisten Platztaxis wurden von pensionierten Astronauten chauffiert, die sich auf diese Weise ein Zubrot verdienten.
Und zugleich sagte hinter mir eine etwas heisere Stimme:
»Sir, bitte, einen Augenblick!«
Ich blieb stehen und drehte mich um, und meine eben noch heitere Stimmung gefror. Genau genommen, hatte ich gegen Gaston Weygand nichts vorzubringen. Er war niemals verurteilt worden.
Als ich ihn zum letztenmal sah, war er, nach einer militärischen Blitzkarriere mit 27 Jahren schon Major, soeben zum Kommandanten des Schweren Kreuzers Invictus befördert worden. Damals war er ein gut aussehender Mann gewesen mit einem verwegenen, spöttischen Zug um den Mund.
Den Spott hatten sie ihm ausgetrieben. Von den letzten Jahren gezeichnet, wirkte er, wie er da in seinem angeschmuddelten Overall vor mir stand, düster und unglücklich.
»Weygand«, sagte ich, »geben Sie sich keine Mühe. Wir brauchen wirklich keine neuen Leute.«
Er war hartnäckig. Er wies tatsächlich mit dem Daumen hinter sich – dorthin, wo die Fridtjof Nansen ihrer Fertigstellung entgegenwuchs.
»Sie werden für den Vogel einen Vormann brauchen, Sir.«
Die Bewerbung mochte unbeholfen vorgetragen worden sein, dafür jedoch war sie klipp und klar. Gaston Weygand trug der UGzRR seine Dienste an.
Seine fachliche Qualifikation war über jeden Zweifel erhaben. Aber darüber hinaus ...? Wie sagt man einem Mann, dem das Kriegsgericht nichts hatte nachweisen können, daß man ihn dennoch für charakterlich und moralisch nicht gefestigt genug ansieht, um ihm einen Rettungskreuzer anzuvertrauen?
Er hatte nach dem Verlust der Invictus den Dienst quittiert. Und daß seine Vorgesetzten bei der Strategischen Raumflotte ihm dies nahegelegt hatten, dem Freispruch zum Trotz, war ein offenes Geheimnis.
Durfte man aus diesem Umstand folgern, daß er doch schuldig war?
Was war auf dieser Sirius-Patrouille, die SK Invictus im Jahr 2084 routinemäßig flog, wirklich geschehen? Da hatte es, wie es vor dem Kriegsgericht zur Sprache, kam, einen geheimen Nebenauftrag gegeben: die Erkundung der nach ihrem Entdecker Enrico Goldoni benannten Goldonischen Sperre, die sich – niemand weiß warum – im Erde-Mond-Venus-Dreieck unter einer bestimmten Konstellation aus zusätzlicher Gravitation, dem untrüglichen Anzeichen für ein Schwarzes Loch, und siedender kosmischer Strahlung aufbaut.
Solange sich die Goldonische Sperre nicht wieder verflüchtigte, war ein verkehrstechnisch äußerst wichtiges Raumgebiet unpassierbar. SK Invictus hatte Befehl, die Sperre auf mögliche Schwachstellen hin abzuklopfen. Die Kenntnis einer Passage war bei den ständigen Querelen mit den Vereinigten Orientalischen Republiken (VOR) gleichbedeutend mit raumstrategischer Überlegenheit.
Der Auftrag konnte nicht ausgeführt werden. Denn während Weygand mit dem Dingi eine Ein-Mann-Erkundung der Sperre flog, war – so seine Aussage – der Kontakt mit der Invictus plötzlich abgebrochen. Nach vierundzwanzigstündiger vergeblicher Suche hatte er dann – wieder seine Aussage – Kurs auf den Mond genommen.
Tatsache blieb, daß die Invictus nie wieder aufgetaucht war.
Und Tatsache war auch, daß Gaston Weygand als einziger der Besatzung überlebte und heimkehrte.
Er war angeklagt worden, sein strahlenverseuchtes Schiff mitsamt der Besatzung im Stich gelassen zu haben, um sich das Dingi mitsamt der knapp bemessenen Preßluftvorräte für seine persönliche Rettung zu sichern, doch da das nicht zu beweisen gewesen war, hatte man ihn freisprechen müssen.
Aber wie das so ist: Fortan war er unten durch. Keine Reederei, die auf sich hielt, wollte etwas von dem ehemaligen Major wissen. Der einzige Job, den er schließlich ergatterte, war einer, den keiner wollte: das Kommando über einen alten, ramponierten Frachter, der radioaktiven Müll zu den Raumdeponien karrte.
Weiß Gott, Weygand war heruntergekommen. Wie er da vor mir stand, stank er förmlich nach Mülldroschke.
Weygand die Fridtjof Nansen anvertrauen? Absurder Gedanke.
Ich antwortete mit erzwungener Höflichkeit. »Tut mir leid. Die Position des Vormannes ist schon vergeben.«
Weygand starrte mich an. Eben noch, spürte ich, hätte ich ihn zum Freund gewinnen können. Nun war er mein Feind. Der Blick, mit dem er mich maß, war eine Kampfansage.
»Ich verstehe«, sagte Weygand. »Sie lehnen mich ab. Sie meinen, ich bin nicht gut genug für Ihren Verein. Aber zum Glück haben nicht Sie, sondern hat der Vorstand das letzte Wort zu sprechen. Sie zwingen mich dazu, mich höheren Orts zu bewerben.«
Mochte er sich bewerben. Ich wollte ihn nicht haben. Punkt. Aus. Ich ließ ihn stehen und kletterte in das Platztaxi. Der Veteran warf den Schlag zu und humpelte zu seinem Platz.
»Wohin, Sir?«
Ich sah auf die Uhr. Sie war stehengeblieben. Wahrscheinlich war ich irgendwo auf dem Neubau in ein Magnetfeld geraten. Auf jeden Fall war ich nicht in Eile. Bevor ich mich von Ruth O’Hara zur Astoria hinausbringen ließe, um nach Las Lunas und zu meinen eigentlichen Aufgaben zurückzukehren, hatte ich Zeit genug, um John Harris für seine Unterstützung persönlich zu danken. Früher einmal war er mein Commander gewesen, dann, in der heißen Phase des Bürgerkrieges und unmittelbar danach Präsident der EAAU. Und als Direktor der VEGA war er bis zu meinem Ausscheiden und Überwechseln zur UGzRR mein Vorgesetzter geblieben. Was uns miteinander verband, war solider als manche Freundschaft.
»Bringen Sie mich zum Alten.«
Der Veteran schnappte nach Luft.
»Zu wem, Sir?«
Das Zusammentreffen mit Weygand fraß an mir. Der Ärger ließ mich ungerecht werden. Ich ließ mich in das Polster zurückfallen und knurrte:
»Sind Sie begriffsstutzig? Bringen Sie mich zu John Harris, dem Direktor dieser erlauchten Gesellschaft!«
In Harris’ Büro flimmerte die TV-Wand, und davor war einschließlich meiner Frau alles versammelt, was bei der VEGA Rang und Namen hatte.
Harris reichte mir die linke Hand. Die rechte konnte er mir nicht geben, zusammen mit dem dazu gehörenden Arm war sie sein Tribut an den Bürgerkrieg.
»Läuft alles glatt, Commander?«
»Was die UGzRR nur Ihnen zu verdanken hat, Sir.«
Harris winkte ab.
»Honig um den Bart ist mir verhaßt, Brandis. Das sollten Sie wissen.«
Harris’ Haare waren grau geworden.
Nach außen hin wirkte er kantiger denn je. In einer Welt der aalglatten Politiker und austauschbaren Macher mit ihren Dutzendgesichtern wirkte er mit seiner rauhbeinigen Direktheit wie ein Fossil.
»Ich kann’s auch so ausdrücken, Sir: In einem halben Jahr ist die Kiste fertig.«
Harris nickte.
»Na also! Suchen Sie sich einen Platz und bewundern Sie das Pausenzeichen der Stella-TV!«
Ich warf einen Blick auf die TV-Wand. Darauf war tatsächlich das Pausenzeichen erschienen.
»Probleme mit der Übertragung, Sir?«
Harris warf das massige Haupt in den Nacken. »Trabbel im Himmelszirkus, Brandis!«
»Im Ernst?«
»Die Dompteure haben die Kontrolle über ihr Pferdchen verloren. Man kann auch sagen: das Pferdchen hat sich urplötzlich in einen störrischen Esel verwandelt.«
Harris sprach in Rätseln. Ich blickte hilflos in die Runde. Henry Jackson, der Sicherheitsbeauftragte der VEGA, erbarmte sich.
»Der Ikarus weigert sich, in die Umlaufbahn einzuschwenken.«
Mich überlief es kalt. Weder Harris’ Zynismus noch Jacksons Einsilbigkeit vermochten die Gefahr herunterzuspielen. In nächster Nachbarschaft waren etliche Milliarden Tonnen kosmischer Materie drauf und dran, sich selbständig zu machen.
Ich ließ mich in einen Sessel fallen.
»Was ist passiert?«
Harris machte eine verächtliche Handbewegung.
»Schlamperei.«
Ich sah Jackson an. Der Sicherheitsbeauftragte präzisierte.
»Ausfall eines Computerverbundes. Schub im falschen Augenblick. Sie sehen gerade zu, ob sie den Brocken gebremst kriegen. Der Übertragungskreuzer war wohl im Wege.«
Wir alle waren es gewohnt, uns auf die Computerverbünde blindlings zu verlassen. Im allgemeinen dachte man nicht darüber nach, was wohl geschehen würde, wenn sie uns mal im Stich ließen. Sie waren ausgereifte Präzisionsinstrumente, bei denen man reibungsloses Funktionieren voraussetzte. Und dennoch gab es gelegentlich Pannen. Nicht immer erfuhr man davon – einmal nicht, weil es nicht im Interesse der Herstellerfirmen lag, daß darüber gesprochen wurde, und zum andern nicht, weil sich diese Pannen meist fernab von jeder Öffentlichkeit ereigneten. Wenn ein von den Sternen heimkehrendes Schiff sich bei der Landung siebzig Meter tief in die Erde bohrte, zitierte man als Unfallursache bevorzugt menschliches, nicht technisches Versagen.
»Und wenn sie ihn nicht gebremst kriegen?«
»Wir werden’s gleich erfahren, denke ich.«
Der Bildschirm war lebendig geworden. Das Nachrichtenstudio der Stella TV hatte sich eingeblendet. Der Sprecher stand mit ernstem Gesicht vor einer vereinfachten Planetkarte.
»Wie wir soeben erfahren«, sagte er, »ist es offenbar nicht gelungen, den Planetoiden Ikarus in letzter Sekunde doch noch in eine Umlaufbahn um die Erde zu zwingen.«
Der Studiosprecher demonstrierte am Modell, wie das Manöver eigentlich hätte verlaufen müssen.
»Nun jedoch muß man davon ausgehen, daß aus der verlangsamten Eigenbewegung des Planetoiden mehr und mehr ein unaufhaltsamer Absturz wird.«
Der Studiosprecher demonstrierte erneut, was sich draußen im Weltraum zutrug.
»Noch ist unklar, wohin die Fallbahn des Planetoiden zielt. Unmittelbare Gefahr für die Erde besteht jedoch nicht, denn der eingebaute Sicherheitsplan Rot kann immer noch in Kraft gesetzt werden. Dies ist der Punkt, über den der Präsident der Republik, Konstantin Belinski-Hegel, mit eilends zusammengerufenen Experten derzeit beratschlagt ...«
Ich war nicht auf dem laufenden.
»Plan Rot?«
Jackson schnippte mit den Fingern.
»Sprengen«, sagt er.
»Allmächtiger!« sagte Harris. »Worauf warten die noch? Das wird doch nicht besser.«
Er drehte sich um und wählte das Rechenzentrum der VEGA an.
»Wollen doch mal hören, was Maximow dazu sagt.«
Den freundlichen, ruhigen Moskowiter, der neuerdings dem Rechenzentrum der VEGA vorstand, kannte ich noch aus der Zeit, als er Leiter von Uranus-Kontrolle gewesen war. Auf dem Monitor erschien sein Gesicht.
»Sir?«
»Ich hoffe«, sagte Harris, »Sie haben das Manöver mitgefahren.«
»Voll und ganz, Sir«, bestätigte Maximow.
»Dann raus mit der Sprache! Was ist da wirklich los?«
Maximow wiegte den Kopf.
»Klipp und klar, Sir?«
»Klipp und klar.«
»Schön«, sagte Maximow. »In genau sechsunddreißig Stunden und vierzehn Minuten klatscht der Brocken zwischen Grönland und Kanada in den Atlantik. Dann bleiben uns gerade noch knappe fünf Minuten zu leben, bevor uns die Sintflut hinwegspült.«
Mich überlief es kalt. Das klang anders als in der gestelzten Sprache des Nachrichtensprechers. Das war hieb- und stichfest. Da wurde nichts beschönigt, nichts verschleiert. Auf das Rechenzentrum der VEGA war Verlaß, und der Moskowiter, der ihm vorstand, war noch einer vom alten Schrot und Korn: einer, der sein Handwerk verstand und die Dinge beim Namen nannte.
Auf einmal verspürte ich den Drang, zum Fenster zu stürzen. Natürlich war das Unsinn. Mit bloßem Auge gab es nichts zu sehen. Noch nicht. Ausgerechnet vor der Haustür mußte es passieren: als ob nicht andauernd Himmelskörper hin und her geschoben wurden, je nachdem, wie es den Eignern oder den Militärs gerade gefiel. Die Verlagerungstechniker hatten Hochkonjunktur.
Und wieder einmal der Ikarus!
Vor zwei Jahren hatte man versucht, ihn zu stehlen. Fast wäre es besser gewesen, er wäre damals in die Sonne gestürzt – er und seine verdammten Diamanten, aus denen unsere Waffenschmiede ihr Kaltes Licht bezogen.
Harris’ knarrende Stimme brach das entstandene Schweigen. »Frage, Maximow: Was kann getan werden?« Maximow hatte die Antwort parat.
»Ihm eine atomare Ladung in den Hintern stopfen und sprengen, Sir. Aber dafür ist es nun fast schon zu spät.«
Harris knurrte etwas, was ich nicht verstand, und schaltete ab.
»Sie haben’s gehört«, sagte er sarkastisch. »Wir können jetzt nur noch abwarten und Tee trinken. Oder auch beten.«
Auf einmal hatte ich das Gefühl des Unwirklichen. Die Erde stand vor dem Untergang, aber vor dem Fenster leuchtete der blaue Himmel, während wir in einem vollklimatisierten Büro in bequemen Sesseln vor der TV-Wand saßen und uns das Grauen als abstrakte Größe demonstrieren ließen.
»Und jetzt tut sich wieder etwas ... offenbar ist eine Entscheidung herbeigeführt worden.« Der Nachrichtensprecher der Stella-TV beugte sich über den Monitor mit den Schlüsselsymbolen der neuesten Meldung.
»Ja, so ist es. Der Präsident der EAAU, Konstantin Belinski-Hegel, hat Anordnung gegeben, Plan Rot in Kraft zu setzen.«
Der Nachrichtensprecher wandte sich erneut der Planetkarte zu. »Ungefähr hier«, er legte seine Hand auf die Karte, »wird die Sprengung des Planetoiden erfolgen. Zum Einsatz kommt eine Nuklearladung von 45 Megatonnen. Inzwischen dürfte unser Aufnahmeteam bei der Verlagerungsfirma Global eingetroffen sein. Wir schalten um zum Countdown ...«
Jackson zeigte mir ein schiefes Grinsen.
»Eins muß man diesen TV-Affen lassen: Sie bleiben geschwollen bis zuletzt – die Spruchblase in Person.«
Auf dem Bildschirm erschien erneut das Gesicht des Nachrichtensprechers.
»Bis zum Countdown werden noch einige Minuten vergehen. Wir schalten um in die Amtsräume des Präsidenten der EAAU. Präsident Belinski-Hegel wendet sich an die Bürger der Drei Vereinigten Kontinente.«
Harris schüttelte ungehalten den Kopf. Er bemerkte meinen Blick und knarrte:
»Da geht allerhand schief. Sie hätten sprengen sollen, als sie den Fehler bemerkten. Jetzt verschanzen sie sich hinter der Staatsgewalt.«
Die Ansprache des Präsidenten war ebenso würdevoll wie dürr und nichtssagend. Der alte Mann mit der Löwenmähne empfand offenbar selbst, daß er in dieser verfahrenen Situation den Lückenbüßer spielen mußte: »... die Gefahr mußte gebannt werden, und die Entscheidung lag bei mir. Sie ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe Befehl gegeben, den Himmelskörper Ikarus auszulöschen ...«
Harris bemerkte ungerührt: »Wer immer den Schlamassel verschuldet hat, er versteht sich bestens darauf, auf Zeit zu spielen.«
Endlich bekam die Stella-TV die gewünschte Schaltung zusammen. Auf dem Bildschirm erkannte ich den Kontrollraum der Global GmbH. Ein eilfertiger Reporter erläuterte die Situation:
»... muß noch gewartet werden, bis alle Schiffe die Gefahrenzone verlassen haben. Bekanntlich ist in den Diamantminen auf dem Ikarus bis zuletzt gearbeitet worden ...«
Der Reporter heizte die Spannung an wie vor dem Auftritt eines berühmten Showstars. Und dann war es so weit. Der Countdown lief an.
»Zehn ...«
»Neun ...«
Das Visiofon schlug an. Harris schaltete es ein.
Maximows Gesicht erschien auf dem Monitor.
»Ja, ist denen noch zu helfen?!«
»Kann man anderes tun?«
Maximow machte eine hilflose Gebärde.
»Drei ...«
»Zwei ...«
»Eins...«
»Null!«
Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Aber nichts war zu sehen, nichts zu hören. Das kosmische Drama – die Liquidierung des Planetoiden Ikarus mittels einer nuklearen Sprengkapsel – vollzog sich in weit entfernten Himmelsräumen. Nur mit der Elle des Astronauten gemessen, fand es statt vor der irdischen Haustür.
»Das war’s!«
Harris schaltete den Fernseher ab.
Das war es gewesen. Harris hatte recht. Ich warf einen Blick auf die Uhr über dem Eingang und erschrak. Es war höchste Zeit, mich zu verabschieden. Die Astoria würde nicht warten.
Ich stand auf.
»Also dann ...«
Harris quetschte meine Hand.
»Vergessen Sie uns nicht ganz, Commander, ja?«
Er brauchte mich nicht zu mahnen. Die VEGA war ein Teil meines Lebens. Und er, John Harris, insbesondere.
Ruth O’Hara brachte mich mit ihrer Libelle zum Flughafen. Die Arbeit als Leiterin der Public-Relations-Abteilung der VEGA hielt sie jung. Mit ihren seegrünen Augen unter dem wehenden brandroten Haar war sie für mich nach wie vor die begehrenswerteste Frau der Welt.
»Und wann sehe ich dich wieder, Mark?«
Die übliche Frage, die übliche Antwort: ein Schulterzucken. Der Dienst unter den Sternen, dem ich mich verschrieben hatte, zehrte am Privatleben. Als Erster Vormann der UGzRR war ich für die ganze Flotte verantwortlich. Und überdies flog ich als Vormann der Henri Dunant wie jeder andere von dem Haufen meine Einsätze.
»Ich will sehen, was sich tun läßt, Ruth.«
»Ich liebe dich, Mark. Vergiß das nicht. Und ich brauche dich.«
»Soll ich aufhören, Ruth?«
Ruth O’Hara ließ meine Frage unbeantwortet. Unter uns lag der Flughafen. Schemenhaft erkannte ich die Umrisse der Astoria, die auf der Erde-Venus-Route den Passagierdienst versah. Ruth schaltete den Scheinwerfer der Libelle ein.
»Es ist plötzlich so dunkel«, sagte sie.
Ich blickte hoch. Der Himmel hatte sich fahlgelb verfärbt. Die Sonne war eine unruhig flimmernde Scheibe. Die Scheibe blendete kaum.
»Komisch«, sagte Ruth. »Was ist da los? Hat das was mit dem Ikarus zu tun?«
»Staub«, erwiderte ich.
Und noch, als ich die Astoria bestieg und Ruth O’Hara ein letztes mal zuwinkte, ahnte ich nicht, daß die Große Katastrophe ihren Anfang genommen hatte.
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