Eine mysteriöse Pannenserie bedroht die Zukunft der Kolibri-Reihe, des ersten Schifftyps, der in allen Medien, unter Wasser, in der Luft und im Weltraum reisen kann. Mark Brandis soll das Rätsel aufzuklären. Doch mit dem Tod jedes weiteren Testpiloten zieht sich die Schlinge immer weiter zu. Der Druck der Öffentlichkeit wird größer und Brandis fliegt selbst, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen.
Und dann verunglückt Grischa Romen in einem Kolibri …
(7) Testakte Kolibri
€6,99
Mark Brandis, Band 07
Ebook, 160 Seiten, Format Epub
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 01
Das Licht, das mich empfing, war so grell, daß ich unwillkürlich die Augen schloß und zurücktrat in den Schatten meiner Diana, mit der ich vor ein paar Minuten auf dieser ins Meer geschleuderten und vergessenen Insel gelandet war. Aber selbst im Schatten war die Luft so heiß, daß ich kaum zu atmen wagte.
Erst nachdem ich die schwere Kombination abgestreift hatte, empfand ich den leisen Hauch, der vom tiefblauen Meer hinweg über die Dünen strich und den weißen, blendenden Sand aufwirbelte. Eine Weile hatte ich nichts anderes im Sinn, als mich von dieser kühlenden pazifischen Brise liebkosen zu lassen und den erfrischenden Salzgeschmack der Brandung auf meinen Lippen zu schmecken. Ich öffnete die beiden oberen Hemdknöpfe und lehnte mich gegen das Leitwerk, wobei ich Ausschau hielt nach Boris Baklanow, ein wenig verwundert darüber, daß er noch nicht zur Stelle war, mich zu begrüßen. Niemand war da, um mich abzuholen; lediglich die großen tropischen Zikaden lärmten. Ich fühlte mich ratlos und auch ein wenig überflüssig: ein ungebetener Gast, den man vor der Haustüre stehen ließ.
In einiger Entfernung erkannte ich den schlanken Tower, über dem die Flagge der VEGA flimmerte: das schwarze Tuch mit dem goldenen Kometen. Vom Tower bis zum Strand mochte es eine halbe Meile sein, und dort, eingehüllt in das gleißende, unbarmherzige Licht, war ein halbes Dutzend silbrig glänzender, flunderförmiger Schiffe abgestellt. Ihretwegen war ich hier.
Zum erstenmal sah ich diese geheimnisumwitterte Neukonstruktion mit eigenen Augen; bisher kannte ich sie nur von den Fotografien und Konstruktionszeichnungen her, die sich in meiner Mappe an Bord der Diana befanden.
Sie standen in Reih und Glied, unmittelbar vor dem Meer, dessen seidige Oberfläche nichts von den Gefahren der Tiefe verriet.
Daß mich auf einmal ein Gefühl der Beklemmung überfiel, kam wohl von der ungewohnten Hitze – und von der Erschöpfung nach einem Flug um die halbe Welt. In Metropolis war Frühling gewesen, lau und mild; hier jedoch war tropischer Sommer.
Oder war ich vielleicht nicht beklommen, sondern ganz einfach verärgert? Denn so einen Empfang hatte ich ganz gewiß nicht erwartet: eine knappe, fast mürrische Landefreigabe durch den Tower – und danach nichts als ein verlassenes Landefeld, über dem die Sonne brütete und mit blechernem Schrei die Möwen kreisten.
Das war am Vormittag des 8. April 2074.
Die Beklemmung oder Verärgerung – was es auch war – wurde keineswegs geringer, als ich nach fünf Minuten des Wartens den offenen Transporter entdeckte, der, eine lange Staubfahne im Schlepp, auf mich zuhielt. Im Gegenteil, mein Verdruß verlangte nach einer Entladung, und ich war froh, nunmehr ein Opfer gefunden zu haben, zumal der Mann am Steuer nicht Baklanow war. Offenbar war es höchste Zeit, daß hier einmal nach dem Rechten gesehen wurde.
Der Transporter, mit einer dicken Staubschicht überzogen, die seine ursprüngliche Farbe unkenntlich machte, schwebte fauchend heran, beschrieb einen Halbkreis und ging unmittelbar vor mir federnd zu Boden. Heraus sprang ein langer, hagerer, sonnengebräunter Mann im leichten Khakidreß.
»Brandis? Wir haben Sie bereits dringend erwartet. Ich bin Stafford. Willkommen auf Espiritu Santu!«
Immer noch aufgebracht über die ungebührliche Behandlung, die ich, der neue Projektleiter, auf dieser Insel erleben mußte, übersah ich die Hand, die Stafford mir entgegenstreckte.
»So, Sie also sind Stafford. Nun, Sie haben sich da reichlich viel Zeit gelassen. An diese Art von Höflichkeit möchte ich mich ungern gewöhnen.«
Stafford ließ seine Hand herabsinken, und seine grauen britischen Augen blickten auf einmal streng.
»Es tut mir leid, daß Sie warten mußten, Sir. Vielleicht nehmen Sie meine Entschuldigung an, wenn ich Ihnen sage, daß das nicht grundlos geschehen ist.«
Inzwischen hatte ich mir in den Kopf gesetzt, zu allererst mit dem Schlendrian auf Espiritu Santu aufzuräumen. »Es fällt mir schwer«, sagte ich daher mit ungemilderter Frostigkeit, »mir einen Grund vorzustellen, der gewichtig genug ist, Mr. Stafford. Ich bin vor genau neun Minuten gelandet. Seitdem läßt man mich hier schmoren.«
In Staffords Augen ging etwas vor, was ich nicht zu deuten wußte. Meine Zurechtweisung prallte an ihm ab.
»Sir«, sagte er langsam, »ich verstehe. Sie sind nicht im Bilde. Wir haben soeben unser fünftes Schiff verloren. Boris Baklanow ist nicht zurückgekehrt.«
»Baklanow?«
Staffords Daumen stieß in den Himmel. »Irgendwo da oben – ohne Rückfahrkarte.«
Mir schwindelte – vielleicht, weil ich barhäuptig unter der tropischen Sonne stand. Stafford, Espiritu Santu, das lange Warten, mein Verdruß: alles war auf einmal von untergeordneter Bedeutung. Boris Baklanows verwegenes Jungengesicht war vor mir aufgetaucht – lachend und unbekümmert, und ich vermeinte seine Stimme zu hören wie in jenen alten unvergeßlichen Tagen, in denen wir zusammen die Schulbänke der VEGA gedrückt und astrale Navigation gebüffelt hatten.
Wie sehr hatte ich mich auf ein Wiedersehen gefreut! Wie glücklich war ich gewesen, wieder einmal mit ihm zu fliegen, Seite an Seite! Und nun war auch Boris Baklanow diesem mörderischen Projekt Kolibri zum Opfer gefallen: als Nummer Fünf auf der langen und traurigen Liste. Ich spürte, wie mein Gaumen trocken wurde und wie mein Herzschlag sich verlangsamte, und auf einmal schämte ich mich meiner Überheblichkeit. Welches Recht hatte ich denn, mich so wichtig zu nehmen? Hier war der falsche Zeitpunkt und der ungeeignete Ort, um den Commander hervorzukehren.
Irgendwie gelang es mir, mich zusammenzureißen, doch während ich nun meinerseits Stafford die Hand reichte, spürte ich lastender denn je die Pflicht und Verantwortung, die ich mir mit der Annahme dieser Kommandierung aufgeladen hatte. Irgendwo in diesem kostspieligen Projekt saß der Wurm und trotzte hartnäckig allen Versuchen, ihn aufzuspüren.
»In diesem Fall«, sagte ich, »bin ich es, der sich entschuldigen muß. Vergessen Sie‘s, Stafford, bitte.«
Stafford drückte kurz und fest meine Hand, und das unerläßliche Vertrauensverhältnis war hergestellt.
»Ich bedauere«, entgegnete er, »daß ich Ihnen nichts Erfreulicheres mitteilen konnte. Baklanow war Ihr Freund, nicht wahr? Er hat uns viel von Ihnen erzählt.«
Im Alltag eines Testpiloten war für Gefühlsaufwallungen kein Platz. Mit jedem Flug, den man heil und gesund hinter sich brachte, wurde einem ein Stück Leben zurückgeschenkt. Darauf kam es an, im Guten und im Bösen.
»Wie ist es passiert?«
Stafford hob die Schultern. »Immer wieder das gleiche. Entweder du ersäufst – oder du katapultierst dich zu den Sternen. Baklanow hat es vorgezogen, nicht bei den Fischen zu bleiben.«
»Und keine Ahnung, warum das so ist?«
»Nicht die leiseste. Zehnmal, zwanzigmal geht alles gut – und dann das!«
Was Stafford lapidar mit das bezeichnete, befand sich noch an Bord der Diana: eine dicke Mappe mit Unfallprotokollen, die einander glichen wie ein Ei dem anderen, versehen mit Commander Harris‘ handschriftlichen Anmerkungen. Meine Aufgabe war es, den Wurm zu finden, der an alledem die Schuld trug. Das Projekt Kolibri, das nach einem vielversprechenden Anfang unversehens zum Moloch geworden war, der Menschen verschlang, lag, seitdem ich den Fuß auf die staubige Erde von Espiritu Santu gesetzt hatte, völlig in meiner Hand.
»Wann erhalte ich das Protokoll?«
»In ein paar Stunden. Aber ich bezweifle, daß es Ihnen weiterhilft. Wir stehen glattweg vor einem Rätsel.«
»Wir werden nachher in Ruhe darüber reden. Vielleicht stoßen wir doch noch auf etwas, was bisher übersehen wurde. Vorerst möchte ich mein Quartier kennenlernen und mit dem Team bekanntwerden.«
Stafford neigte zustimmend den Kopf.
»Ihre Unterkunft ist bereits gerichtet. Allerdings – erwarten Sie davon nicht zu viel. Die Neuen Hebriden sind nicht Metropolis. Wie steht‘s mit Ihrem Gepäck?«
»An Bord.«
»Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich es später abholen. Mir scheint, ein kühler Drink ist erst einmal wichtiger.«
Stafford wartete, bis ich den Transporter bestiegen hatte, dann setzte er sich ans Steuer. Unter uns begann das Landefeld zu stäuben.
»Wie gesagt, Brandis, Komfort wird bei uns kleingeschrieben, aber die Werftanlagen sind erstklassig. Ich nehme doch an, man hat Sie unterrichtet, weshalb man sich beim Kolibri-Projekt für Espiritu Santu entschieden hat?«
Ich nickte stumm. Ich war tiefer getroffen, als ich zeigen durfte. Nur Zeit und Arbeit konnten die Wunde schließen. Bevor ich Metropolis verließ, hatte ich mich mit Informationen vollstopfen lassen; es gab seitdem nichts, was ich über das Projekt Kolibri nicht wußte. Für den Aufbau eines eigenen Versuchszentrums auf den Neuen Hebriden hatte man sich vornehmlich deshalb entschieden, weil hier die günstigsten Unterwasserbedingungen vorherrschten.
Stafford war offenbar bestrebt, zwischen uns kein Schweigen aufkommen zu lassen – vielleicht, weil er glaubte, daß menschlicher Kontakt für mich in diesem Augenblick die beste Medizin sei. Erst später begriff ich, wie nötig er selbst es hatte, die Schatten zu verscheuchen, die sich über uns gebreitet hatten. Solange man noch imstande war, miteinander zu plaudern, blieb der Tod ein gebanntes Gespenst.
»Man muß diesem Projekt ziemlich viel Bedeutung zumessen, wenn man ausgerechnet Sie hierherschickt.«
Ich wollte nicht unhöflich erscheinen. Gewiß war Baklanow auch sein Freund gewesen. Meiner Trauer konnte ich mich später hingeben – allein in meinen vier Wänden. »Man verspricht sich ziemlich viel von Kolibri.«
»Zivil oder militärisch?«
»Ich glaube, beides spricht da etwas mit. Und wer gibt schon gerne auf – so dicht vor dem Ziel?«
Stafford schüttelte langsam den Kopf.
»Wenn Sie mich fragen, Brandis – Kolibri ist eine verdammte Mißgeburt. Man sollte ihr den Hals umdrehen und einen Schlußstrich ziehen.«
»Wir werden sehen.«
»Was sehen? Wie es den sechsten und siebenten erwischt?«
»Niemand zwingt Sie, einen Kolibri zu fliegen. Ein Wort von Ihnen, und Sie werden noch heute zu einem anderen Projekt versetzt.«
Stafford wandte mir ein eisiges Gesicht zu.
»Sir, auf dieses Wort können Sie lange warten. Ich bin nicht Testpilot geworden, um davonzulaufen. Wenn Sie sagen, dieses Miststück hat eine reelle Chance – nun, dann soll es diese Chance haben. Die Frage ist nur: hat es die?«
»Es hat sie«, sagte ich. »Im Prinzip gibt es nichts daran auszusetzen. Und Sie sagen ja selbst: zehnmal, zwanzigmal geht alles gut.«
»Aber dann, plötzlich, hakt es aus. Warum?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Wir werden es herausfinden. Das ist unsere Arbeit.«
»Nun, vielleicht finden Sie‘s wirklich heraus, vielleicht.« Staffords Stimme ließ sich entnehmen, daß er nicht daran glaubte.
Wenn seine Stimmung die allgemein vorherrschende war, sagte ich mir, dann allerdings stand es schlecht um das Projekt Kolibri. Nichts konnte ihm abträglicher sein als Resignation und Gleichgültigkeit. Allerdings – eine solche Stimmung bildete sich nicht ohne Grund heran, am wenigsten in einem Kreis harter Testpiloten. Offenbar hatte sich Commander Harris, der Direktor der VEGA, meine Aufgabe leichter vorgestellt, als sie in Wirklichkeit war: »Das wäre doch eigentlich was für Sie, Brandis. Wie ich höre, muß Ihre Hermes ohnehin für ein paar Wochen in die Werft. Warum gönnen Sie sich nicht eine Zeit unter südlicher Sonne und bringen die Sache in Ordnung?« Auf einmal war nichts Verlockendes mehr da, schon gar nicht an dieser südlichen Sonne, die das Land versengte. Ob Harris das vorher gewußt hatte?
Wir durchfuhren einen welkenden Palmenhain, und dann lag vor uns das Camp: ein Dutzend gestreckter Baracken, von denen die größte die Aufschrift trug: VEGA. Venus - Erde: Gesellschaft für Astronautik. Zwischen den Baracken stäubte unter der grellen Sonne der Sand, nur daß er hier nicht weiß war wie am Strand, sondern schwarz, wahrscheinlich vulkanischen Ursprungs. Hinter den Baracken erhob sich ein hohes kuppelförmiges Bauwerk aus lichtdurchlässigem Monobet: die Werft.
»Hatten Sie mehr erwartet, Brandis?«
»Kaum«, erwiderte ich. »Es ist alles da, was benötigt wird. Wo werde ich wohnen?«
»In der Stabsbaracke.«
Die Stabsbaracke war jene mit der Aufschrift. Sie war wohnlich eingerichtet und vollklimatisiert. Dankbar genoß ich die erfrischende Kühle. Alles, was ich in den kommenden Wochen für das Leben und für die Arbeit brauchte, war vorhanden.
Stafford schritt an mir vorüber und öffnete den Kühlschrank.
»Ich habe mir erlaubt, eine Flasche bereitzustellen. Ich nehme an, Sie lehnen nicht ab.«
»Nicht, wenn Sie ein Glas mittrinken.«
Um Staffords Lippen schien plötzlich ein böses Lächeln zu schweben.
»Ab und zu ein Schluck aus der Flasche ist so ziemlich alles, was einen hier noch hoffen läßt. Sie werden noch dahinterkommen.«
Ich hatte es befürchtet. Die Stimmung im Camp war auf dem Nullpunkt. Früher oder später würde ich eingreifen müssen. Aber nicht heute, nicht jetzt.
Stafford hob sein Whiskyglas.
»Nochmals – willkommen auf der Insel der Verdammten, Brandis! Und nichts für ungut.«
»Und auf das Projekt Kolibri!« sagte ich.
Stafford leerte sein Glas und warf es fort.
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