Die Reisezeit zu fremden Sonnen ist zu lang für gewöhnliche Sterbliche. Deshalb werden auf einem fernen Asteroiden künstliche Menschen gezüchtet – die Astraliden.
Mark Brandis, der auserkoren ist, diese Astraliden zu unterrichten, ist begeistert von deren Lernbereitschaft und Intelligenz. Doch als es auf der Station zu einem Unfall kommt, stellt sich heraus, daß die Kunstmenschen doch nicht so perfekt sind, wie es den Anschein hat.
(27) Pandora-Zwischenfall
€6,99
Mark Brandis, Band 27
Ebook, 169 Seiten, Format Epub
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 1
Gregor Chesterfield lag schwer und schlaff auf meiner Schulter, und sein warmes Blut rann mir über die Hände, mit denen ich ihn hielt. Ich keuchte vor Anstrengung, meine Beine waren schwer wie Blei. Ich bekam es zu spüren, daß ich nicht mehr der Jüngste war. Die doppelte Anstrengung – einen Verwundeten zu tragen, der immer wieder die Besinnung verlor, und zugleich um das Leben zu laufen – trieb mir schwarze Nebel vor die Augen.
Als ich mich in den Aufzug zwängte, war ich zu Tode erschöpft, aber wenn ich nicht aufgeben wollte, mußte ich noch eine Weile durchhalten.
Ich berührte den Knopf mit dem S.
Der Buchstabe stand für Schleuse. Durch die Schleuse gelangte man in den zur Plattform gehörenden kleinen Kutter, der zum Antennenziehen benutzt wurde. Mit etwas Glück sollte man damit eine andere Plattform erreichen. Auch der Ikarus konnte nicht allzu weit entfernt sein. Ich konnte nur hoffen, daß sich im Kutter zumindest ein Handbuch befand. Die Flucht war in keiner Weise vorbereitet.
Chesterfield atmete stoßweise. Er benötigte dringend einen Arzt, aber von den Ärzten, die es auf dieser Plattform gab, hatte er keine Hilfe zu erwarten. Die Ärzte standen zu Professor Jago.
Der Aufzug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Ein Deck nach dem anderen zog vorüber. Ich lehnte mich mit der linken Schulter gegen die Wand. Der Junge murmelte etwas, was ich nicht verstand.
»Ruhig, Gregor«, beschwichtigte ich ihn, »es ist gleich überstanden. Ich bringe dich hier raus.«
Aber er sagte nichts mehr. Er hatte schon wieder das Bewußtsein verloren.
Der Aufzug war am Ziel. Die Tür fuhr auf. Vor mir lag das Schleusendeck. Es war leer, nirgends ein Mensch zu sehen. Fünfzig Schritt mußte ich noch durchhalten, danach, hinter dem Steuer des Kutters, durfte ich aufatmen.
Ich zwängte mich aus der Kabine und rannte los. Kaum war ich aus dem Aufzug heraus, setzte er sich abwärts in Bewegung.
Ich machte mir nichts vor. Inzwischen war längst Alarm gegeben worden. Das ganze Projekt Astralid stand gegen uns. Für den, der sich ihm in den Weg stellte, kannte es kein Erbarmen.
Ich keuchte den Gang entlang, am Treppenhaus vorüber, in dem nur die Notbeleuchtung brannte, der Schleuse entgegen. Es ging nicht mehr um Minuten, es ging um Sekunden.
Fünfzig Schritte können zur Ewigkeit geraten. Ich taumelte und rang nach Luft. Durch das Oberlicht überschüttete mich der Orion-Nebel mit seinem kalten, unwirklich-gleichgültigen Licht. Nie war mir die Leere des Raumes so sehr bewußt gewesen; ich empfand sie als ungeheuerlich.
Die Erde, jenes flimmernde Pünktchen im goldenen Gesprenkel, war nicht zu sehen, und das bedeutete, daß PANDORA Fahrt aufgenommen hatte, um sich in entlegenen Himmelsräumen eine neue gravitatorische Delle zu suchen: dort, wo sie keine Störung zu befürchten brauchte. Das Projekt Astralid warf seine moralischen Fesseln ab, es zog seiner Vollendung entgegen.
Als ich bei der Schleuse anlangte, zitterte ich vor Erschöpfung, aber was ich sah, verhieß alsbaldige Erlösung. Durch das geschliffene Bullauge des Lukendeckels blickte ich in das Innere des Kutters, der draußen startklar in den Magneten hing: auf die zerschlissenen Polster und das schmuddelige Steuerpult mit seinen unzähligen Brandflecken, die von den Zigaretten des nikotinsüchtigen Antennenmeisters herrührten.
Der Kutter war weiß Gott kein Luxusklipper, aber seitdem ich ihm gelegentlich bei der Arbeit zugesehen hatte, wenn er im unermüdlichen Hin und Her die vom Meteroritenschlag beschädigten Antennen flickte, wußte ich, daß sich hinter seinem ramponierten Äußeren ein kräftiges und gesundes Herz verbarg.
Noch einmal, bevor ich mich in die Polster fallen lassen konnte, galt es, ein halbes Dutzend Schritte zu tun. Ich legte die Hand auf die Kontaktplatte – und mir war, als gerönne mein Blut.
Sie waren mir zuvorgekommen. Sie hatten sofort erraten, daß ich versuchen würde, mich des Raumkutters zu bemächtigen, und darum Vorsorge getroffen.
Die Platte war tot. Ich mochte drücken, so viel ich wollte: Der Impuls sprang nicht über, der Lukendeckel rührte sich nicht.
Der Lukendeckel konnte sich nicht rühren, denn die Klappe des unscheinbaren Transformatorengehäuses stand auf, und um festzustellen, daß darin die Sicherung fehlte, brauchte ich mich nicht erst zu bücken und nachzusehen.
Die Flucht war zu Ende, noch bevor sie richtig begonnen hatte.
Eine Weile stand ich wie gelähmt. Ich fühlte mich angewidert. Ich fühlte mich müde. Ich fühlte mich verbraucht.
Was ging es mich an, wie die Zukunft unter den Sternen beschaffen war? Nur ein Don Quichotte galoppierte gegen die Windmühlenflügel des Machbaren an.
Der Junge stöhnte und bewegte sich.
Er war noch am Leben, und ohne daß er wußte, was er tat, erinnerte er mich daran, daß ich mir etwas einfallen lassen mußte, wenn ich die Verantwortung, die ich mir in seiner Person aufgebürdet hatte, ernst nahm. Es ging auch um ihn. Entweder ich ließ mir etwas einfallen, oder wir kapitulierten und ließen den Dingen ihren erbärmlichen Lauf.
Der Junge war wieder einmal zu sich gekommen. Er sprach mit halbwegs normaler Stimme.
»Was ist los, Sir?«
»Sie haben die Schleuse blockiert. Wir sitzen auf PANDORA fest.«
»Und was tun wir jetzt?«
»Wir brauchen zunächst einmal ein Versteck. Ich muß Zeit gewinnen.«
»Haben Sie schon an Mboya gedacht, Sir?«
»Der Chief?«
»Er steht auf unserer Seite, Sir.«
»Selbst wenn er das tut – bis zum Maschinenraum ist es ein weiter Weg.«
»Ich werde laufen.«
»Das wirst du nicht.«
»Aber ...«
Mehr kam von ihm nicht. Erneut schwanden ihm die Sinne. Um ihn am Leben zu erhalten, mußte sich schon ein Wunder ereignen. Aber seine Wunde zu versorgen – das war schon der zweite Schritt. Zuvor mußte ich mich mit meiner Achtzig-Kilo-Last auf den Schultern quer durch die Plattform durchschlagen, zum Unterdeck, in dem Henry Mboya die Stellung hielt: den Maschinenraum. Und auch hierzu war ein Wunder vonnöten.
Mit dem Mut der Verzweiflung raffte ich mich auf. Noch hatte ich keinen bestimmten Plan. Ich benötigte dringend eine Verschnaufpause, um meine Gedanken zu ordnen.
Hals über Kopf hatte ich die Flucht ergriffen. Auf Verrat war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich dachte eben immer noch in den überlieferten menschlichen Kategorien, für die es bald keine Verwendung mehr geben sollte.
Ich wandte der Schleuse mit dem für mich unerreichbar gewordenen Kutter den Rücken zu und rannte zum Aufzug zurück. Auf dem Weg nach oben hatte ich ihn benutzt, und es war gut gegangen. Sie konnten eben nicht überall sein.
Der Aufzugschacht – ich sah es, während mir der Schweiß in die Augen lief – war leer. Aber die erleuchtete Kabine kehrte bereits wieder zurück. Auf halber Strecke blieb ich taumelnd stehen. Was immer sie auf meine Spur gebracht haben mochte – sie kamen heran. Über den polierten Decksplatten zeigten sich als erstes die funkelnden Helme mit dem aufgeprägten Großbuchstaben M und der nachgestellten Seriennummer.
Der Umstand, daß ich die Muster gewahrte, bevor sie mich erspähten, verschaffte uns noch einmal eine Galgenfrist.
Die einzige Zuflucht war das halbdunkle Treppenhaus: eine von den rund fünfzig vertikalen Verbindungen, die es aus Gründen der baulichen Sicherheit auf der Plattform gab. Die raumsparende eiserne Wendeltreppe wand sich einer unbekannten Tiefe entgegen.
Der Aufzug hielt. Ich hörte Stimmen und rasche Schritte. Wahrscheinlich kontrollierten sie die Schleuse. Sie ahnten nicht, wie dicht sie mir auf den Fersen waren.
Die Not verlieh mir noch einmal Kraft. Darum bemüht, daß der Junge, der blutend und schlaff auf meine Schulter drückte, nirgendwo anstieß, tastete ich mich die Stufen hinab.
Über mir hallten die Stimmen der Muster.
»Hier sind sie nicht.«
»Aber sie sind hier gewesen. Das hier ist frisches Blut.«
»Sie sind die Treppe runter!«
»Hinterher!«
Mein Vorsprung war winzig.
Die Bluthunde hatten die Fährte aufgenommen. Ihre polternden Schritte und Zurufe kamen näher. Es ging um das nackte Leben.
Den Mustern in die Hände zu fallen, war gleichbedeutend mit Tod. Professor Jago und sein wissenschaftliches Team hatten ganze Arbeit geleistet. In der Sprache der Menschheit von morgen würden Begriffe wie Mitleid oder Erbarmen ebenso wenig vorkommen wie Freundschaft und Treue. Vielleicht würde diese neue Menschheit lebenstüchtiger sein. Die Frage war, ob das den Preis rechtfertigte.
»Gleich haben wir sie!«
»Sie sitzen sowieso in der Falle!«
Die Treppe war zu Ende. Ich stand vor einer feuerhemmenden Stahlwand. Sie gehörte zum nächsttieferen Deck. Je nachdem, wohin der Pfeil wies, erreichte man über den Gang die Fortführung des Niederganges. Die dröhnenden Schritte und die forschen Stimmen drohten mich einzuholen. Ich drückte die Tür auf.
Der Gang war schmal, niedrig und taghell ausgeleuchtet. Das Fauchen der Belüfter war zu hören. Irgendwann am Anfang meiner Lehrtätigkeit auf PANDORA war ich auch in diesen Sektor der Plattform vorgedrungen, in dem die kommunikativen Stränge des Projekts zusammenliefen, doch die damals gewonnenen Eindrücke waren längst verwischt. Der Sektor war mir so gut wie unbekannt.
Ein Aufzug befand sich rechterhand, keine zehn Meter von mir entfernt, doch der Versuchung, die von ihm ausging, mußte ich mich verschließen. Der grüne Pfeil mit dem Treppenhaussymbol – drei Stufen – wies nach links.
Ich wandte mich nach rechts, riß die Aufzugstür auf und schickte die leere Kabine nach unten. Danach rannte ich zum Treppenhaus und betete darum, daß die Muster auf die falsche Spur, die ich soeben gelegt hatte, hereinfielen und ihre Aufmerksamkeit auf die Aufzüge konzentrierten. Vielleicht gewann ich auf diese Weise eine weitere Galgenfrist, aber es war mir klar, daß ich die Intelligenz der Muster nicht unterschätzen durfte.
Sollte es für uns überhaupt eine Chance geben, mußte ich unbedingt Chesterfields Wunde verbinden. Solange der Junge so viel Blut verlor, würde man uns immer wieder aufspüren. Eine deutlichere Markierung unseres Fluchtweges konnte es nicht geben.
Ein zweiter Pfeil tauchte auf. Er wies in einen rechtwinklig abbiegenden Seitengang. Es war ein Glück, daß Chesterfield plötzlich ins Rutschen geriet, so daß ich stehenblieb, bevor ich um die Ecke bog, um seinen schlaffen Körper fester in den Griff zu bekommen. Einen Schritt weiter – und ich wäre ihnen direkt in die Arme gelaufen.
»Ich schlage vor, daß wir die Suche systematisieren.« Die Stimme gehörte Professor Jago. »M 92 und M 81 – ihr nehmt euch den Muttersektor vor. Die anderen folgen mir zum C-Deck.«
Die überstürzte Flucht hatte mich in die Sackgasse geführt. Der Weg zum nächsten Treppenhaus war mir verstellt, und die Bluthunde, die mir auf den Fersen waren, mußten jeden Augenblick durch die Stahltür kommen. Wenn ich weitereilte, war ich verloren. Wenn ich zurücklief, war ich verloren. Und verloren war ich auch, wenn ich stehenblieb. Mir blieb keine Sekunde mehr, um mich zu entscheiden. Ich legte die Hand auf die nächstbeste Kontaktplatte, und die Tür sprang auf.
Noch bevor sie ganz geöffnet war, zwängte ich mich hindurch, drehte mich herum und legte die Hand auf die Kontaktplatte Schließen. Die Tür fuhr sofort wieder zu.
Im Raum, den ich betreten hatte, war es kühl, die Luft trocken wie in der Wüste. Das nüchterne Licht der Deckenbeleuchtung erhellte ohne den mindesten Versuch zu schmeicheln ein schwarzes, sargförmiges Gebilde.
Irgendwann wurde ich mir bewußt, daß ich mich im Allerheiligsten der Plattform befand. In den Studios wurden die Programme aufgestellt und eingespeist, aber für ihre Übermittlung zum Kometen Cunningham war dieser Kasten zuständig: der Mutterleib I. Das Wunderwerk der modernen Computertechnik entsprach dem ganzen Projekt: Es war die materialisierte Zweckmäßigkeit. Aber zugleich war der Mutterleib I ein idealer Platz, um den Jungen, unter dessen Last ich fast zusammenbrach, für eine Verschnaufpause zu betten.
Die Tür schloß hermetisch. Sie war schalldicht. Was draußen in den Gängen vorging, blieb mir verborgen. Ich lehnte mit weichen Knien an der Wand und gab meinem Herzen Zeit, zur Ruhe zu kommen. Dann erst sah ich mich um. Es gab noch eine zweite Tür. Wohin sie führte, wußte ich nicht. Die Erkundung mochte warten. Zunächst mußte ich mich um den Jungen kümmern und dafür sorgen, daß er nicht verblutete.
Ich knöpfte das Hemd auf, riß mir das Unterhemd vom Leib und verband damit die klaffende Halswunde. Chesterfield öffnete einmal die Augen und sah mich an. Ich nickte ihm zu.
»Es wird schon wieder werden, Gregor.«
Er antwortete nicht. Die Augen fielen ihm zu. Sein Atem ging schwer. Ich würde ihn wieder tragen müssen. Einstweilen war ich dazu nicht in der Lage. Vielleicht in einer Stunde, vielleicht in zehn Minuten, vielleicht in einer. Aber nicht sofort. Ich stand da, unfähig mich zu rühren, ausgelaugt, zu Tode erschöpft, blickte auf ihn nieder, auf sein wächsernes Gesicht, und versuchte, meine Gedanken zu ordnen.
Entweder es gelang mir, mich durchzuschlagen in den Maschinenraum. Mit Henry Mboyas Unterstützung konnte ich dann einen letzten Versuch unternehmen, dem tollgewordenen Projekt ein Ende zu bereiten.
Oder sie erwischten mich. Dann triumphierte das Projekt – und für den homo sapiens schlug die Stunde seiner Ablösung durch den Astraliden.
Bevor ich den nächsten Schritt tat, mußte ich mir Klarheit verschaffen: über das, was sich zutrug, ebenso wie darüber, wie es dazu gekommen war.
Es hatte doch nicht erst begonnen, als ich auf PANDORA eintraf. Begonnen hatte es früher. Und es war ein vielverheißendes Projekt gewesen, sonst hätte ich mich nicht in seinen Dienst gestellt.
Oder ... ?
Mehr tot als lebendig stand ich vor dem sargförmigen Mutterleib I, blickte auf das wächserne Gesicht eines jungen Mannes, der mir lieb und teuer war wie ein eigener Sohn, und suchte den Faden ...
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