Als Mark Brandis, Testpilot des Raumschiff-Prototyps „Delta VII“, von einem Testflug zurückkehrt, ist der texanische General Gordon B. Smith gerade dabei, die Macht auf der Erde an sich zu reißen und eine faschistische Diktatur zu errichten. Die Mannschaft der „Delta VII“ wird Zeuge einer Rede des gestürzten Präsidenten Hirschmann, der sich – unfassbar für alle – scheinbar auf die Seite des Generals geschlagen hat. Die Astronauten planen daraufhin eine Flucht zur Venus-Kolonie, um dort ein Unternehmen vorzubereiten, das die Befreiung des rechtmäßigen Präsidenten der EAAU zum Ziel hat.
(1) Bordbuch Delta VII
€6,99
Mark Brandis, Band 01
Ebook, 190 Seiten, Format Epub
Kategorie: Mark Brandis
Schlagwörter: Mark Brandis, Michalewski, Weltraumabenteuer
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Kapitel 01
Aus einem fremden, feindlichen Himmel kehrst du heim in die Welt der Menschen. Aber du warst schon so lange und so weit von ihr fort, und darum weißt du nicht einmal, ob deine Heimkehr dich freut oder dich schmerzt. Fast ist sie dir gleichgültig, und nur deine Disziplin läßt dich den Kurs unverändert weitersteuern, den du dir vor langer, langer Zeit errechnen ließest – draußen, in der grenzenlosen Leere, im kalten Licht nie betretener Sterne.
So ungefähr war mir zumute, als der gedämpfte Summton der Anflugautomatik ertönte und mich – sehr zu meinem Unwillen – davon in Kenntnis setzte, daß Delta VII nicht länger ein einsamer Meteor im Weltraum war, sondern bereits ein von der Kontrollstation wahrgenommener und registrierter Flugkörper im überwachten Raum der Venus.
Der Summton war ein Appell an die Disziplin. Er drang in meine Gleichgültigkeit ein und erinnerte mich an meine Pflichten. Ich warf einen Blick auf den optischen Richtungsgeber und sah nur bestätigt, daß mir kein Fehler unterlaufen war. In das Gewirr der zuckenden Linien kehrte auf geheimnisvolle Weise Ordnung ein: sie bündelten sich zum hell leuchtenden Leitstrahl, der von nun an die Führung übernahm. Ich hatte nichts anderes zu tun, als mich ihm anzuvertrauen.
Genaugenommen, gab es an diesem Leitstrahl nichts Geheimnisvolles. Man konnte ihn auflösen in mathematische Formeln und technische Ursachen – aber das änderte nichts an dem Umstand, daß man ihn, wenn er sich aus dem Chaos allmählich formte, immer wieder als ein Wunder empfand.
Meine Gleichgültigkeit verwandelte sich in Konzentration und Spannung, und wieder, wie so oft, verspürte ich die Last einer Verantwortung, die zu tragen und zu ertragen ich mich nie ganz gewöhnen konnte. Vor ein paar Monaten noch wäre der Summton, der mich alarmiert hatte, für mich ein Signal zum Aufatmen gewesen, doch mittlerweile hatte ich die Erfahrung machen müssen, daß ein Pilot besser daran tat, erst die Landung abzuwarten, bevor er aufatmete.
Auf dem Radarschirm begannen sich die ersten Einzelheiten der Venus abzuzeichnen; die bläuliche Bergkette der Sierra Alpina und an ihrer Südflanke die silbrige Perlenschnur der Towns, wie man vereinfachend die dreizehn Städte nannte, die in den letzten vier Jahrzehnten hier gewachsen waren.
Jede dieser Towns beherbergte zwischen drei und vier Millionen Menschen, und ihr Anblick bot wahrhaftig keinen Anlaß, sich alter Zeiten zu erinnern; doch jedesmal, wenn ich die Venus ansteuerte, mußte ich daran denken, was wohl jene Menschen vor mir bei ihrem Auftauchen empfunden haben mochten – damals, als es von diesem trostlosen Verbannungsort keine Wiederkehr gab. Neusibirien, wie die Venus damals noch hieß, war erst vor einem knappen Menschenalter von diesem Makel befreit worden.
Wie viele Leiden, wie viele zerbrochene Hoffnungen mochte sie bis dahin gesehen haben, aber auch wieviel menschliche Größe und Tapferkeit. Auch mein Großvater väterlicherseits hatte dort seine letzten Jahre verbringen müssen, weil er der großen und reinigenden Revolution hatte vorgreifen wollen. Irgendwann hatte ich versucht, in einer sentimentalen Anwandlung, seinen Spuren in der Verbannung nachzugehen. Ich hatte nicht einmal sein Grab finden können. Alles war anders geworden. Nichts auf der Venus erinnerte mehr an jene schreckliche Zeit.
Vom Radarschirm wanderte mein Blick hinüber zu den Armaturen. Es gab dort nichts, was ich hätte beanstanden müssen. Auch nach zweimonatiger harter Dauerbelastung arbeiteten Triebwerk und Automatik wie am ersten Tag. Bald würde Commander Harris ins Bordbuch eintragen können, daß der Testflug keine verborgenen Mängel aufgedeckt hatte, sondern im Gegenteil bestätigte, daß der Prototyp Delta VII zum Serienbau freigegeben werden konnte.
Die letzte entscheidende Kurskorrektur war von Iwan Stroganow, dem Navigator, am frühen Vormittag dieses 22. September des Jahres 2069 am Computer errechnet worden, und ich hatte daraufhin die automatische Steuerung neu eingerichtet.
Als Pilot war ich abgebrüht genug, um mich nicht von jeder technischen Neuerung beeindrucken zu lassen, doch diesmal mußte ich zugeben, daß die technische Ausrüstung von Delta VII eine bewundernswerte Leistung moderner Ingenieurskunst darstellte, in der alle Erkenntnisse der Elektronenforschung zusammengeflossen waren. In gewisser Weise machte es mir diese Vollkommenheit schwer, ein persönliches Verhältnis zu diesem Schiff zu gewinnen, das sich selbst mit eigener Intelligenz so mühelos seinen Weg durch die Unendlichkeit des Raumes suchte.
Andererseits wußte ich nur zu gut, wie rasch es mit solcher Perfektion vorbei sein konnte – wenn das gellende Schrillen der Alarmglocken verkündete, daß das wohlausgeklügelte System des Zusammenspiels aller technischen Einheiten zusammengebrochen war.
Wenn dieser Fall eintrat, dann hieß es, sich im Handumdrehen wieder an alles das zu erinnern, was man dereinst in unzähligen Lehrgängen gelernt hatte, und in Sekundenschnelle die richtigen Entscheidungen zu treffen und in die entsprechenden Kommandos und Aktionen umzusetzen. Gewiß, das kam nicht oft vor, denn eine Vielzahl von Sicherheitssystemen, die wiederum von einer Vielzahl anderer Sicherheitssysteme überwacht wurden, beugte dem vor – aber wenn das geschah, dann mußten Pilot und Besatzung hellwach sein. Das war eine der grundsätzlichsten Erkenntnisse der neuen Raumfahrt: Menschlicher Geist läßt sich auf die Dauer nicht ersetzen.
Plötzlich überkam mich das Verlangen, aus meiner Einsamkeit auszubrechen und die kalte Welt der Sterne vollends hinter mir zu lassen. Ich versuchte es mit einem Scherz.
»Jetzt können wir nur noch hoffen, Sir«, sagte ich, »daß die Jungs da unten uns gleich ‚reinholen. Ehrlich gesagt, ich würde nur allzugern mal wieder in ein saftiges Steak beißen.«
Noch während ich das sagte, tat es mir bereits leid.
John Harris, der Commander, drehte mir langsam sein flächiges, leicht sommersprossiges Gesicht mit den schmalen Lippen und den kühlen wasserblauen Augen zu.
»Auf Warteposition, Captain, ist noch keiner verhungert.«
Auch diesmal gelang es mir nicht, mein kühles Verhältnis zum Commander zu verbessern. In gewisser Weise war das meine Schuld, denn ich hatte im Verlauf dieser Reise Zeit genug gehabt, seine Eigenarten zu studieren. Ich hätte daran denken müssen, daß er Wert darauf legte, dienstliche und private Belange stets fein säuberlich auseinanderzuhalten – bis zur Pedanterie. Selbst auf engstem Raum brachte er es irgendwie fertig, sich mit einem Wall von Autorität zu umgeben, unsichtbar zwar, aber darum doch nicht weniger undurchdringlich. Auf der einen Seite war er, auf der anderen die Crew. Daß er sich damit unbeliebt machte, schien ihn nicht zu rühren. Vielleicht empfand er es nicht einmal. Ich wurde nicht klug aus ihm.
Ich ärgerte mich über die angedeutete, aber doch unmißverständliche Zurechtweisung, zugleich aber auch über mich selbst, weil ich sie mir durch eigenes Verschulden eingehandelt hatte, und hörte erst damit auf, als Antoine Ibaka meine Bemerkung aufnahm.
»Voriges Jahr«, sagte er, »haben sie uns mal geschlagene neun Stunden über irgend so einem lausigen Stern hängen lassen – so tief, daß ich in ihre Kochtöpfe sehen konnte. Mann, hatte ich ne Wut!«
Es war mir klar, weshalb Ibaka diesen alten Bagatellfall hervorkramte, den wir längst alle kannten. Es war ein Versuch, mir zur Hilfe zu kommen – eine Hilfeleistung übrigens, an der auch der Commander nichts auszusetzen hatte.
Gespräche dieser Art gehörten zum Alltag an Bord, obwohl die Bordverpflegung in den letzten Jahren erheblich besser und schmackhafter geworden war. Auf die Dauer freilich konnte sie eine frisch zubereitete Mahlzeit nicht ersetzen. Die künstliche Geschmacksbeimengung täuschte nur oberflächlich darüber hinweg, daß ihre Aufgabe rein funktionell war: die Besatzung unterwegs am Leben und bei Kräften zu erhalten. Weil das so war, nahm das Essen in unseren Gesprächen einen wichtigen Platz ein.
Auch Stroganow wurde plötzlich gesprächig, und noch bevor er richtig den Mund aufgemacht hatte, wußte ich bereits, was er sagen würde.
»Ihr Jungen«, sagte er – er unterließ es nie, sein Alter zu unterstreichen –, »seid ein ganz hübsch verwöhntes Volk. Als ich mit der Fliegerei anfing, da hätte man sich nach der heutigen Bordverpflegung alle Finger abgeleckt.«
Mit seinen achtundvierzig Jahren war der stämmige Sibiriak der älteste an Bord. Längst hatte ich aufgehört, über ihn zu lächeln. Seine Erfahrung war unbezahlbar. Er war noch mit den alten Phönix–Raumschiffen gereist, deren letzte Exemplare seit geraumer Zeit in irgendwelchen Museen vor sich hin schliefen. Damals hatte man für einen Flug von der Erde zur Venus, den man heute in weniger als fünfunddreißig Stunden zurücklegte, noch hundertsiebenundvierzig Tage benötigt – mehr als doppelt soviel, wie Kolumbus einst für seine Seereise in die Neue Welt gebraucht hatte.
»Gott ja«, sagte Ibaka mit einem unüberhörbaren Hauch von Ironie, »die gute, alte Windjammerzeit!«
Ich fand, das hätte er besser nicht sagen sollen, und nahm mir vor, ihn bei Gelegenheit unter vier Augen darauf hinzuweisen. Wir hatten wahrhaftig keinen Grund, uns etwas auf unseren Fortschritt einzubilden. Männer wie Stroganow hatten ihn schließlich erst ermöglicht, und sie hatten einen hohen Preis dafür bezahlt. Der Vorstoß zu den Grenzen des Sonnensystems war ein Geschichtsblatt voller schwarzer Kreuze.
Was immer ich mir vorgenommen hatte, Ibaka hierüber zu sagen, Stroganow nahm es mir ab.
»Auf jeden Fall«, sagte er, »wurde damals noch Geschichte gemacht – und die Astronauten waren ganze Männer. Was wißt ihr schon von dieser Zeit? Ich bin mit McBird unterwegs gewesen, als ihr noch die Schulbank drücken mußtet. Das war ein Mann!«
Commander Harris räusperte sich, und sein Räuspern beendete dieses Gespräch, bevor Ibaka und Stroganow so richtig aneinandergeraten konnten.
Wir an Bord von Delta VII sprachen Metro miteinander, diese Sprache, die nach dem Zusammenschluß unserer Heimatländer vor siebzig Jahren zur Europäisch–Amerikanisch–Afrikanischen Union – kurz EAAU – künstlich geschaffen und nach der gleichfalls künstlich geschaffenen Hauptstadt Metropolis benannt worden war. Nach zwei Generationen des Bestehens hatte sie sich längst zu einer alltäglichen Umgangssprache abgeschliffen, der nichts Künstliches mehr anhaftete.
Damals, als man das Metro zur Amtssprache der EAAU erhob, hatte man in ihr nur ein unerläßliches Mittel der Verständigung zwischen den verschiedenen Völkern gesehen, doch mit deren allmählichen Zusammenwachsen hatte sich auch die Literatur dieser neuen Sprache bemächtigt, und damit begann sie ihr eigenes Leben. Hier und da löste sie sogar allmählich die alten Landessprachen ab, vor allem in den außerirdischen Ansiedlungen, wo bereits eine Generation heranwuchs, die mit den Sprachen ihrer Großväter und Väter kaum etwas anzufangen wußte und sie allenfalls als verhaßtes Pflichtfach in den Schulen büffelte.
Diese Entwicklung mochte bedauerlich sein, zugleich jedoch war sie logisch und unvermeidbar. Wo immer sich Menschen zu neuen Gemeinschaften zusammenschlossen, wurde für sie die einigende Sprache wichtiger und bedeutsamer als das babylonische Sprachgewirr der Vergangenheit. Als vor dreihundert Jahren die große Einwanderungswelle über die Vereinigten Staaten von Amerika hinweggebrandet war, mochte es da nicht anders zugegangen sein.
»Commander an Pilot!« Das galt mir. Commander Harris‘ Stimme hatte den gewohnten kühlen, etwas knarrenden Klang. »Frage: Höhe über Landegrund?«
Ich war auf diese Frage vorbereitet gewesen, darum kam meine Antwort sofort.
»Dreiundachtzigtausend, rasch fallend, Sir.«
»Leitstrahl?«
»Leitstrahl steht, Sir.«
Ich richtete meinen Blick wieder auf den Radarschirm. Die ersten Bewegungen auf der Venus begannen sich abzuzeichnen. Auch konnte ich erkennen, daß sich ein Formationsflug anderer Raumschiffe zwischen uns und der Venus befand, ohne daß jedoch Gefahr drohte. Mit schlangengleicher Windung umschwenkte er unseren Leitstrahl und entfernte sich.
»Landeanflug fortsetzen«, sagte Commander Harris. »Ich rufe die Station.« Mit einem Knopfdruck stellte er die Verbindung her. »Delta VII ruft Venus.«
Meine Aufmerksamkeit galt wieder den Instrumenten. Nun, da Delta VII in das Schwerefeld der Venus eingetreten war, mußte die Geschwindigkeit ständig überwacht werden. Nur mit halbem Ohr hörte ich die Lautsprecherdurchsage.
»Bitte kommen, Delta VII«
»Delta VII auf automatischem Landekurs«, sagte Commander Harris‘ Stimme dicht neben mir. »Leitstrahl steht. Erbitte Freigabe der Landung.«
Rechts von mir unterhielten sich Stroganow und Ibaka in gedämpftem Ton über irgendeine Wahrnehmung auf dem Radarschirm. Ich selbst saß da, kontrollierte die Armaturen und wartete auf einen Anlaß einzugreifen, der sich nicht bot. Die Anflugautomatik drosselte das Triebwerk feinfühliger, als ich es je hätte tun können. Wie von weit hörte ich den Lautsprecher sagen:
»Ihr Anflug ist hier nicht gemeldet, Delta VII. Wie lautet Ihre Flugorder?«
Es war diese Frage, die mich aufhorchen ließ, und ich konnte gerade noch sehen, wie Commander Harris irritiert die Brauen zusammenzog.
»Delta VII an Venus. Ich weise Sie darauf hin, daß die Frage nach der Flugorder im Zuge interglobaler Vereinbarungen vor über fünf Jahren aus dem Anflugreglement gestrichen wurde. Ich habe um Freigabe der Landung nachgesucht.«
Der Commander hatte recht. Die Frage nach der Flugorder war unzulässig. Ich merkte, daß Stroganow mich fragend ansah, aber weil ich selbst nicht wußte, was diese Neuerung bezweckte, zuckte ich nur mit den Schultern. Der Lautsprecher sagte unnachgiebig: »Bedaure, Delta VII, aber ich muß darauf bestehen.«
Ibaka setzte an, etwas zu sagen, aber Stroganow schüttelte fast unmerklich den Kopf, und Ibaka blieb stumm. Es war ein Augenblick gespannter Erwartung. Das Gesicht des Commanders war rot angelaufen, doch seine Stimme klang auch weiterhin kühl und beherrscht. Das war eine seiner Stärken: Er verlor nie die Kontrolle über sich.
»Delta VII an Venus. Ich gebe unter Protest unsere Flugorder bekannt: VEGA–Testflug ohne Destination. Commander – Doppelpunkt – John Harris. Zur Zeit befinden wir uns auf Heimatkurs.«
Die blecherne Lautsprecherstimme antwortete: »Verstanden, Delta VII. Setzen Sie den Anflug vollautomatisch fort. Ihre Landung ist freigegeben. Ende.«
Commander Harris lehnte sich zurück und machte ein steinernes Gesicht, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß es unter dieser scheinbar ruhigen Oberfläche gefährlich brodelte. Nach einigen Sekunden des Überlegens warf er einen Blick auf die Uhr und griff zum Bordbuch.
Aus einem fremden, feindlichen Himmel kehrst du heim in die Welt der Menschen. Aber du warst schon so lange und so weit von ihr fort, und darum weißt du nicht einmal, ob deine Heimkehr dich freut oder dich schmerzt. Fast ist sie dir gleichgültig, und nur deine Disziplin läßt dich den Kurs unverändert weitersteuern, den du dir vor langer, langer Zeit errechnen ließest – draußen, in der grenzenlosen Leere, im kalten Licht nie betretener Sterne.
So ungefähr war mir zumute, als der gedämpfte Summton der Anflugautomatik ertönte und mich – sehr zu meinem Unwillen – davon in Kenntnis setzte, daß Delta VII nicht länger ein einsamer Meteor im Weltraum war, sondern bereits ein von der Kontrollstation wahrgenommener und registrierter Flugkörper im überwachten Raum der Venus.
Der Summton war ein Appell an die Disziplin. Er drang in meine Gleichgültigkeit ein und erinnerte mich an meine Pflichten. Ich warf einen Blick auf den optischen Richtungsgeber und sah nur bestätigt, daß mir kein Fehler unterlaufen war. In das Gewirr der zuckenden Linien kehrte auf geheimnisvolle Weise Ordnung ein: sie bündelten sich zum hell leuchtenden Leitstrahl, der von nun an die Führung übernahm. Ich hatte nichts anderes zu tun, als mich ihm anzuvertrauen.
Genaugenommen, gab es an diesem Leitstrahl nichts Geheimnisvolles. Man konnte ihn auflösen in mathematische Formeln und technische Ursachen – aber das änderte nichts an dem Umstand, daß man ihn, wenn er sich aus dem Chaos allmählich formte, immer wieder als ein Wunder empfand.
Meine Gleichgültigkeit verwandelte sich in Konzentration und Spannung, und wieder, wie so oft, verspürte ich die Last einer Verantwortung, die zu tragen und zu ertragen ich mich nie ganz gewöhnen konnte. Vor ein paar Monaten noch wäre der Summton, der mich alarmiert hatte, für mich ein Signal zum Aufatmen gewesen, doch mittlerweile hatte ich die Erfahrung machen müssen, daß ein Pilot besser daran tat, erst die Landung abzuwarten, bevor er aufatmete.
Auf dem Radarschirm begannen sich die ersten Einzelheiten der Venus abzuzeichnen; die bläuliche Bergkette der Sierra Alpina und an ihrer Südflanke die silbrige Perlenschnur der Towns, wie man vereinfachend die dreizehn Städte nannte, die in den letzten vier Jahrzehnten hier gewachsen waren.
Jede dieser Towns beherbergte zwischen drei und vier Millionen Menschen, und ihr Anblick bot wahrhaftig keinen Anlaß, sich alter Zeiten zu erinnern; doch jedesmal, wenn ich die Venus ansteuerte, mußte ich daran denken, was wohl jene Menschen vor mir bei ihrem Auftauchen empfunden haben mochten – damals, als es von diesem trostlosen Verbannungsort keine Wiederkehr gab. Neusibirien, wie die Venus damals noch hieß, war erst vor einem knappen Menschenalter von diesem Makel befreit worden.
Wie viele Leiden, wie viele zerbrochene Hoffnungen mochte sie bis dahin gesehen haben, aber auch wieviel menschliche Größe und Tapferkeit. Auch mein Großvater väterlicherseits hatte dort seine letzten Jahre verbringen müssen, weil er der großen und reinigenden Revolution hatte vorgreifen wollen. Irgendwann hatte ich versucht, in einer sentimentalen Anwandlung, seinen Spuren in der Verbannung nachzugehen. Ich hatte nicht einmal sein Grab finden können. Alles war anders geworden. Nichts auf der Venus erinnerte mehr an jene schreckliche Zeit.
Vom Radarschirm wanderte mein Blick hinüber zu den Armaturen. Es gab dort nichts, was ich hätte beanstanden müssen. Auch nach zweimonatiger harter Dauerbelastung arbeiteten Triebwerk und Automatik wie am ersten Tag. Bald würde Commander Harris ins Bordbuch eintragen können, daß der Testflug keine verborgenen Mängel aufgedeckt hatte, sondern im Gegenteil bestätigte, daß der Prototyp Delta VII zum Serienbau freigegeben werden konnte.
Die letzte entscheidende Kurskorrektur war von Iwan Stroganow, dem Navigator, am frühen Vormittag dieses 22. September des Jahres 2069 am Computer errechnet worden, und ich hatte daraufhin die automatische Steuerung neu eingerichtet.
Als Pilot war ich abgebrüht genug, um mich nicht von jeder technischen Neuerung beeindrucken zu lassen, doch diesmal mußte ich zugeben, daß die technische Ausrüstung von Delta VII eine bewundernswerte Leistung moderner Ingenieurskunst darstellte, in der alle Erkenntnisse der Elektronenforschung zusammengeflossen waren. In gewisser Weise machte es mir diese Vollkommenheit schwer, ein persönliches Verhältnis zu diesem Schiff zu gewinnen, das sich selbst mit eigener Intelligenz so mühelos seinen Weg durch die Unendlichkeit des Raumes suchte.
Andererseits wußte ich nur zu gut, wie rasch es mit solcher Perfektion vorbei sein konnte – wenn das gellende Schrillen der Alarmglocken verkündete, daß das wohlausgeklügelte System des Zusammenspiels aller technischen Einheiten zusammengebrochen war.
Wenn dieser Fall eintrat, dann hieß es, sich im Handumdrehen wieder an alles das zu erinnern, was man dereinst in unzähligen Lehrgängen gelernt hatte, und in Sekundenschnelle die richtigen Entscheidungen zu treffen und in die entsprechenden Kommandos und Aktionen umzusetzen. Gewiß, das kam nicht oft vor, denn eine Vielzahl von Sicherheitssystemen, die wiederum von einer Vielzahl anderer Sicherheitssysteme überwacht wurden, beugte dem vor – aber wenn das geschah, dann mußten Pilot und Besatzung hellwach sein. Das war eine der grundsätzlichsten Erkenntnisse der neuen Raumfahrt: Menschlicher Geist läßt sich auf die Dauer nicht ersetzen.
Plötzlich überkam mich das Verlangen, aus meiner Einsamkeit auszubrechen und die kalte Welt der Sterne vollends hinter mir zu lassen. Ich versuchte es mit einem Scherz.
»Jetzt können wir nur noch hoffen, Sir«, sagte ich, »daß die Jungs da unten uns gleich ‚reinholen. Ehrlich gesagt, ich würde nur allzugern mal wieder in ein saftiges Steak beißen.«
Noch während ich das sagte, tat es mir bereits leid.
John Harris, der Commander, drehte mir langsam sein flächiges, leicht sommersprossiges Gesicht mit den schmalen Lippen und den kühlen wasserblauen Augen zu.
»Auf Warteposition, Captain, ist noch keiner verhungert.«
Auch diesmal gelang es mir nicht, mein kühles Verhältnis zum Commander zu verbessern. In gewisser Weise war das meine Schuld, denn ich hatte im Verlauf dieser Reise Zeit genug gehabt, seine Eigenarten zu studieren. Ich hätte daran denken müssen, daß er Wert darauf legte, dienstliche und private Belange stets fein säuberlich auseinanderzuhalten – bis zur Pedanterie. Selbst auf engstem Raum brachte er es irgendwie fertig, sich mit einem Wall von Autorität zu umgeben, unsichtbar zwar, aber darum doch nicht weniger undurchdringlich. Auf der einen Seite war er, auf der anderen die Crew. Daß er sich damit unbeliebt machte, schien ihn nicht zu rühren. Vielleicht empfand er es nicht einmal. Ich wurde nicht klug aus ihm.
Ich ärgerte mich über die angedeutete, aber doch unmißverständliche Zurechtweisung, zugleich aber auch über mich selbst, weil ich sie mir durch eigenes Verschulden eingehandelt hatte, und hörte erst damit auf, als Antoine Ibaka meine Bemerkung aufnahm.
»Voriges Jahr«, sagte er, »haben sie uns mal geschlagene neun Stunden über irgend so einem lausigen Stern hängen lassen – so tief, daß ich in ihre Kochtöpfe sehen konnte. Mann, hatte ich ne Wut!«
Es war mir klar, weshalb Ibaka diesen alten Bagatellfall hervorkramte, den wir längst alle kannten. Es war ein Versuch, mir zur Hilfe zu kommen – eine Hilfeleistung übrigens, an der auch der Commander nichts auszusetzen hatte.
Gespräche dieser Art gehörten zum Alltag an Bord, obwohl die Bordverpflegung in den letzten Jahren erheblich besser und schmackhafter geworden war. Auf die Dauer freilich konnte sie eine frisch zubereitete Mahlzeit nicht ersetzen. Die künstliche Geschmacksbeimengung täuschte nur oberflächlich darüber hinweg, daß ihre Aufgabe rein funktionell war: die Besatzung unterwegs am Leben und bei Kräften zu erhalten. Weil das so war, nahm das Essen in unseren Gesprächen einen wichtigen Platz ein.
Auch Stroganow wurde plötzlich gesprächig, und noch bevor er richtig den Mund aufgemacht hatte, wußte ich bereits, was er sagen würde.
»Ihr Jungen«, sagte er – er unterließ es nie, sein Alter zu unterstreichen –, »seid ein ganz hübsch verwöhntes Volk. Als ich mit der Fliegerei anfing, da hätte man sich nach der heutigen Bordverpflegung alle Finger abgeleckt.«
Mit seinen achtundvierzig Jahren war der stämmige Sibiriak der älteste an Bord. Längst hatte ich aufgehört, über ihn zu lächeln. Seine Erfahrung war unbezahlbar. Er war noch mit den alten Phönix–Raumschiffen gereist, deren letzte Exemplare seit geraumer Zeit in irgendwelchen Museen vor sich hin schliefen. Damals hatte man für einen Flug von der Erde zur Venus, den man heute in weniger als fünfunddreißig Stunden zurücklegte, noch hundertsiebenundvierzig Tage benötigt – mehr als doppelt soviel, wie Kolumbus einst für seine Seereise in die Neue Welt gebraucht hatte.
»Gott ja«, sagte Ibaka mit einem unüberhörbaren Hauch von Ironie, »die gute, alte Windjammerzeit!«
Ich fand, das hätte er besser nicht sagen sollen, und nahm mir vor, ihn bei Gelegenheit unter vier Augen darauf hinzuweisen. Wir hatten wahrhaftig keinen Grund, uns etwas auf unseren Fortschritt einzubilden. Männer wie Stroganow hatten ihn schließlich erst ermöglicht, und sie hatten einen hohen Preis dafür bezahlt. Der Vorstoß zu den Grenzen des Sonnensystems war ein Geschichtsblatt voller schwarzer Kreuze.
Was immer ich mir vorgenommen hatte, Ibaka hierüber zu sagen, Stroganow nahm es mir ab.
»Auf jeden Fall«, sagte er, »wurde damals noch Geschichte gemacht – und die Astronauten waren ganze Männer. Was wißt ihr schon von dieser Zeit? Ich bin mit McBird unterwegs gewesen, als ihr noch die Schulbank drücken mußtet. Das war ein Mann!«
Commander Harris räusperte sich, und sein Räuspern beendete dieses Gespräch, bevor Ibaka und Stroganow so richtig aneinandergeraten konnten.
Wir an Bord von Delta VII sprachen Metro miteinander, diese Sprache, die nach dem Zusammenschluß unserer Heimatländer vor siebzig Jahren zur Europäisch–Amerikanisch–Afrikanischen Union – kurz EAAU – künstlich geschaffen und nach der gleichfalls künstlich geschaffenen Hauptstadt Metropolis benannt worden war. Nach zwei Generationen des Bestehens hatte sie sich längst zu einer alltäglichen Umgangssprache abgeschliffen, der nichts Künstliches mehr anhaftete.
Damals, als man das Metro zur Amtssprache der EAAU erhob, hatte man in ihr nur ein unerläßliches Mittel der Verständigung zwischen den verschiedenen Völkern gesehen, doch mit deren allmählichen Zusammenwachsen hatte sich auch die Literatur dieser neuen Sprache bemächtigt, und damit begann sie ihr eigenes Leben. Hier und da löste sie sogar allmählich die alten Landessprachen ab, vor allem in den außerirdischen Ansiedlungen, wo bereits eine Generation heranwuchs, die mit den Sprachen ihrer Großväter und Väter kaum etwas anzufangen wußte und sie allenfalls als verhaßtes Pflichtfach in den Schulen büffelte.
Diese Entwicklung mochte bedauerlich sein, zugleich jedoch war sie logisch und unvermeidbar. Wo immer sich Menschen zu neuen Gemeinschaften zusammenschlossen, wurde für sie die einigende Sprache wichtiger und bedeutsamer als das babylonische Sprachgewirr der Vergangenheit. Als vor dreihundert Jahren die große Einwanderungswelle über die Vereinigten Staaten von Amerika hinweggebrandet war, mochte es da nicht anders zugegangen sein.
»Commander an Pilot!« Das galt mir. Commander Harris‘ Stimme hatte den gewohnten kühlen, etwas knarrenden Klang. »Frage: Höhe über Landegrund?«
Ich war auf diese Frage vorbereitet gewesen, darum kam meine Antwort sofort.
»Dreiundachtzigtausend, rasch fallend, Sir.«
»Leitstrahl?«
»Leitstrahl steht, Sir.«
Ich richtete meinen Blick wieder auf den Radarschirm. Die ersten Bewegungen auf der Venus begannen sich abzuzeichnen. Auch konnte ich erkennen, daß sich ein Formationsflug anderer Raumschiffe zwischen uns und der Venus befand, ohne daß jedoch Gefahr drohte. Mit schlangengleicher Windung umschwenkte er unseren Leitstrahl und entfernte sich.
»Landeanflug fortsetzen«, sagte Commander Harris. »Ich rufe die Station.« Mit einem Knopfdruck stellte er die Verbindung her. »Delta VII ruft Venus.«
Meine Aufmerksamkeit galt wieder den Instrumenten. Nun, da Delta VII in das Schwerefeld der Venus eingetreten war, mußte die Geschwindigkeit ständig überwacht werden. Nur mit halbem Ohr hörte ich die Lautsprecherdurchsage.
»Bitte kommen, Delta VII«
»Delta VII auf automatischem Landekurs«, sagte Commander Harris‘ Stimme dicht neben mir. »Leitstrahl steht. Erbitte Freigabe der Landung.«
Rechts von mir unterhielten sich Stroganow und Ibaka in gedämpftem Ton über irgendeine Wahrnehmung auf dem Radarschirm. Ich selbst saß da, kontrollierte die Armaturen und wartete auf einen Anlaß einzugreifen, der sich nicht bot. Die Anflugautomatik drosselte das Triebwerk feinfühliger, als ich es je hätte tun können. Wie von weit hörte ich den Lautsprecher sagen:
»Ihr Anflug ist hier nicht gemeldet, Delta VII. Wie lautet Ihre Flugorder?«
Es war diese Frage, die mich aufhorchen ließ, und ich konnte gerade noch sehen, wie Commander Harris irritiert die Brauen zusammenzog.
»Delta VII an Venus. Ich weise Sie darauf hin, daß die Frage nach der Flugorder im Zuge interglobaler Vereinbarungen vor über fünf Jahren aus dem Anflugreglement gestrichen wurde. Ich habe um Freigabe der Landung nachgesucht.«
Der Commander hatte recht. Die Frage nach der Flugorder war unzulässig. Ich merkte, daß Stroganow mich fragend ansah, aber weil ich selbst nicht wußte, was diese Neuerung bezweckte, zuckte ich nur mit den Schultern. Der Lautsprecher sagte unnachgiebig: »Bedaure, Delta VII, aber ich muß darauf bestehen.«
Ibaka setzte an, etwas zu sagen, aber Stroganow schüttelte fast unmerklich den Kopf, und Ibaka blieb stumm. Es war ein Augenblick gespannter Erwartung. Das Gesicht des Commanders war rot angelaufen, doch seine Stimme klang auch weiterhin kühl und beherrscht. Das war eine seiner Stärken: Er verlor nie die Kontrolle über sich.
»Delta VII an Venus. Ich gebe unter Protest unsere Flugorder bekannt: VEGA–Testflug ohne Destination. Commander – Doppelpunkt – John Harris. Zur Zeit befinden wir uns auf Heimatkurs.«
Die blecherne Lautsprecherstimme antwortete: »Verstanden, Delta VII. Setzen Sie den Anflug vollautomatisch fort. Ihre Landung ist freigegeben. Ende.«
Commander Harris lehnte sich zurück und machte ein steinernes Gesicht, aber ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß es unter dieser scheinbar ruhigen Oberfläche gefährlich brodelte. Nach einigen Sekunden des Überlegens warf er einen Blick auf die Uhr und griff zum Bordbuch.
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