Das Luftschiff des Dr. Nikola (5)

1

Ich bemerkte die vier Rotgardisten erst, als ich das Klacken ihrer Gewehrschlösser hörte. Ein Fehler, der selten ungestraft bleibt. Sie standen um den Pfad herum verteilt, zerlumpte Gestalten mit knorrigen Gesichtern, verbargen sich hinter verfrorenen Baumstämmen. Ich glaube nicht, dass sie bedacht auf der Lauer gelegen hatten. Wozu? Es gab keine lohnende Beute mehr. Wie oft mochte der Schleichweg heutzutage noch benutzt werden? Nun, was auch immer sie in diese Gegend verschlagen hatte, sie waren hier, ich war hier. Kein glückliches Zusammentreffen. Obwohl ich möglichst unauffällig unterwegs gewesen war, mussten sie mich in der winterstillen Taiga schon von Weitem gehört haben.
Ich zügelte mein Pferd und stieß ihm die Hacken in die Seite; ließ es ein wenig tänzeln, um mir Zeit zu verschaffen, die Lage einzuschätzen. Vier Mann, fast alle ergraute Soldaten. Eigentlich selten inzwischen in beiden Lagern, die zumeist eher unerfahrene Burschen frisch vom Feld pressten. Einer von ihnen fiel in diese letzte Kategorie, aber eben leider nur einer. Ihre ganze Körperhaltung verriet, dass sie geradezu auf einen Angriff oder Fluchtversuch von mir warteten.
Wenn ein Soldat etwas hasst, dann ist es die Unsicherheit, das bange Warten auf den Kampf. Freund oder Feind, beides ist ihm im Grunde recht; was er nicht gut aushält, ist die Zeitspanne, bis sich dies entscheidet.
Einer von ihnen, ein großer, magerer Mann in einem zerlumpten Mantel, trat aus seiner Deckung heraus und stapfte auf mich zu. Auf seinem Kopf saß ein Fetzen von Fellmütze mit einem roten Stern. Der Schnee knirschte unter seinen zerschlissenen Stiefeln. Er blickte mich müde an. Solche Augen hatte ich bereits zu oft gesehen. Jeder Glaube an einen Sinn der ganzen Schinderei war daraus gewichen, ebenso die Hoffnung auf eine Zeit nach dem Krieg. Das Einzige, was in ihnen lebte, war das Misstrauen.
»Wohin des Weges, Kamerad?« Er achtete peinlich darauf, nicht in die Schusslinie der anderen zu laufen.
»Petropawlowsk«, sagte ich und hoffte, dass die Ortschaft noch immer von den Roten gehalten wurde.
»Willst dich den Truppen anschließen?«
Nur nicht übertreiben. »Ich habe Verwandte dort.«
Der Mann lächelte schief. Seine zersprungenen Lippen gaben ein Trümmerfeld von Zähnen frei. »Brave Leute, die die gerechte Sache unterstützen?«
»Selbstverständlich.«
»Du hast keine Papiere, nehme ich an?«
»Ich wusste nicht, dass ich welche brauche.« Das war unglaubwürdig, aber welche Entschuldigung hätte ich sonst vorbringen können?
Die anderen drei hatten ihre Gewehre auf mich gerichtet. Ihr Anführer stand stumm vor mir und musterte mich.
»Jammerschade«, sagte er. »Du bist ein tapferer Mann, ein Soldat. Vielleicht haben wir irgendwo im selben Schützengraben gelegen.«
Das konnte nicht sein. Ich bin schon immer Kavallerist gewesen. Die einzig würdige Art zu kämpfen: auf dem Rücken eines Pferdes, den Säbel in der Hand. Ich sah aber keinen Grund, ihm das auf die Nase zu binden.
»Ich bin nicht tapferer als andere«, sagte ich. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin das Kämpfen leid.«
Er nickte kaum merklich. »Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, dass mal kein Krieg war.«
»Kein Berufssoldat? Denkt man sofort, wenn man dich sieht.«
»Ja? Das täuscht. Wir sind Bauern. Waren wir jedenfalls. Vor sehr langer Zeit. Uns hat damals niemand gefragt, ob wir für den Zaren in den Krieg ziehen wollten. Jetzt kämpfen wir für uns selbst.«
Glaubte er das wirklich? Unwahrscheinlich. Ich nickte trotzdem und versuchte mich an einem verträumten Gesichtsausdruck.
Durch seinen Körper ging ein Ruck. Ein Mann, der eine Entscheidung getroffen, eine Katze, die die Lust verloren hatte, mit der Maus zu spielen. »Du wunderst dich vielleicht, Kamerad, warum ich dich nicht nach deinem Namen frage«, sagte er. »Das liegt daran, dass ich dich kenne. Ich weiß, wer du bist.«
Ich holte tief Luft. Das Pferd spürte meine Unruhe und wurde nervös. Ich versuchte nur halbherzig, es zu bändigen.
»Steig besser ab«, sagte der Soldat.
Ich zögerte, betrachtete die drei Gewehrläufe. Selbst wenn sie die lausigsten Schützen der ganzen Welt wären, alle konnten sie mich kaum verfehlen. Bedächtig schwang ich mich aus dem Sattel und trat vom Pferd zurück.
Der Soldat deutete zu den Bäumen.
»Dort geht‘s lang. Hinunter zum Fluss.«
Ich strich über die Nüstern meines Pferdes. Dann marschierte ich los und stapfte durch den Schnee. Ich spürte ein Jucken im Rücken, an der Stelle, auf die ihre Flinten zielten.
Sie hatten mich nicht nach Waffen durchsucht. Wieso nicht? So zerlumpt sie waren, nichts an ihnen wirkte nachlässig. Sie rechneten damit, dass ich eine Pistole hatte, lauerten nur darauf, dass ich danach griff. Oder doch nicht? Ich stolperte absichtlich und senkte die Arme, um mein Gleichgewicht wieder zu erlangen.
Die Stimme des Soldaten war so frostig wie der Boden unter meinen Füßen. »Halt die Hände so, dass ich sie sehen kann.«
Wir erreichten den Fluss, den der Frost in einen arktischen Schlummer versenkt hatte. Ich stakste weiter. Meine Stiefel rutschten durch den hohen Schnee über das Eis. Schließlich befahl mir der Soldat, anzuhalten.
»Ein schöner Platz, nicht wahr, Herr Baron?«, fragte er. Dann wandte er sich an die anderen: »Vielleicht interessiert euch, wen wir hier erwischt haben. Darf ich vorstellen: Baron Robert von Klingenberg, Kommandeur der weißen Truppen in Dauria.«
Ich durfte mich wohl geschmeichelt fühlen, dass mein Titel und mein Ruf sie so beeindruckten. Ein Flüstern sprang zwischen ihnen hin und her. Einer von ihnen spuckte aus.
»Bist du dir sicher?«
»Leugnen Sie es, Herr Baron?«, fragte ihr Anführer.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe den Namen immer mit Stolz getragen.«
»Klingenberg.« Der Anführer ließ den Klang auf der Zunge zergehen, schmeckte ihn ab. »Ein seltsamer Name für russischen Adel.«
»Baltischer Adel. Meine Vorfahren gehörten zu den ersten deutschen Kreuzrittern, die gen Osten gezogen sind.«
»Und dort die Ungläubigen abgeschlachtet haben.«
Damit hatte er unsere glanzvolle Familientradition in einem Satz zusammengefasst.
»Seht ihr die Narbe?«, fragte er. »Offiziere.« Aus seiner Stimme tropfte Ekel. »Saufen, Spielen, Herumhuren. Vom Leben so gelangweilt, dass sie irgendwelche Händel anfangen. Du hast mit der Verlobten eines Freundes angebändelt und ihn dann im Duell getötet, habe ich gehört. Ist die Geschichte wahr? Man erzählt sich so viel, und nur so wenig davon kann man glauben.«
»Die Geschichte ist wahr«, sagte ich. »Ein Duell ist nicht die passende Gelegenheit, um Freundschaften zu pflegen. Besonders, wenn einem gerade das Gesicht zerhackt wird.«
»Der Krieg hat euch dann die Arbeit abgenommen, euch gegenseitig umzubringen. Und nach der Revolution hat dich Ataman Semjonow nach Dauria geschickt. Was führt dich in diese Gegend? Keine Lust mehr, Züge zu überfallen und unschuldige Bauern zu massakrieren? Willst du den Ataman in Wladiwostok um deine Entlassung bitten?«
Woher wusste er, dass sich Semjonow nicht in seinem Hauptquartier in Tschita befand? Die Paranoia des Atamans war krankhaft, aber berechtigt. Spione und Zuträger überall. »Ich reite nur ein wenig spazieren«, sagte ich. Semjonow um meine Entlassung bitten? Was für ein Gedanke! Er würde mich am nächsten Baum aufknüpfen, und das auch nur, wenn ich viel Glück hatte.
»Zieh den Mantel aus. Pjotr, halt dem Baron mal den Mantel.« Pjotr war der junge Bursche, der einzige Neuling unter ihnen. Obwohl, was heißt Neuling? Er konnte schon jahrelang bei diesem Gemetzel dabei sein, selbst wenn auf seiner Oberlippe gerade mal eine Spur von Flaum stand und er mich mit den staunenden Augen eines Kindes betrachtete.
»Ganz wie in der guten alten Zeit, nicht wahr, Herr Baron?«, fragte der Anführer. »Nimm ihm ebenfalls die Pistole ab, die stört ihn bloß. Gut. Hier.« Er reichte mir eine Axt.
Ich blickte ihn fragend an.
»Wir brauchen ein Loch. Wir wollen ein paar Fische an Land ziehen, und wir haben einen prächtigen Köder.«
»Bin ich eingeladen?«, fragte ich.
»Selbstverständlich.«
»Es tut mir leid, aber ich muss gestehen: Ich mag keinen Fisch.«
Der Mann schob seine Mütze nach vorn und kratzte sich am Hinterkopf. »Wir werden uns da drüben ein schönes Feuerchen anzünden. Ich liebe den Geruch von gebratenem Fisch. Weckt Erinnerungen an meine Kindheit. Mein Vater hat mir das Angeln beigebracht. Wie ist es mit dir, Kamerad? Bringt ein Baron seinem Sohn das Angeln bei?«
»Mein Vater und ich haben uns nie sehr gut verstanden.«
»Traurige Sache, das. Nun, wir machen uns ein hübsches Feuerchen, schwatzen und schmatzen, erzählen alte Geschichten vom Krieg. Vielleicht bekommst du ja doch ein wenig Hunger. Ich finde, wenn wir dich schon einladen, kannst du uns auch das Loch ins Eis schlagen.«
»Na gut, da wir ja zusammen im Schützengraben gelegen haben.« Ich hackte los. Langsam, ich hatte keinen Grund, mich zu beeilen. Trotzdem dauerte es nicht allzu lange, ein Loch, groß genug zum Eisfischen, in den Fluss zu hauen.
»Das reicht nicht«, sagte der Anführer. »Wir haben größeren Hunger.«
Ich hackte weiter. Was sollte ich sonst tun bei dieser Kälte? Körperliche Ertüchtigung und die Gewissheit des nahen Todes, es gibt nichts Zuverlässigeres, um sich warmzuhalten. Ganz von der Ferne her hörte ich ein seltsames Geräusch, wie das Brummen von Motoren. Was konnte das sein? Die Bahnlinie war meilenweit entfernt, und es klang auch nicht nach dem metallischen Schnaufen einer Lokomotive.
»Das ist groß genug, Herr Baron. So dick bist du nicht.«
Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Stirn, trat zurück und musterte mein Werk. Er hatte recht, die Öffnung würde mich bequem verschlucken können. Ich ließ den Arm mit der Axt sinken, ließ die Axt aber nicht los.
Der Mann bemerkte das genau und lächelte.
Ich blickte zum nahen Ufer. Die Kiefern standen völlig still, ein eisklarer Morgen, kalt und sonnig. Der Frühling schickte Kundschafter aus, schlich sich an. Bald würde die Welt auftauen. Schade, wie gern hätte ich das miterlebt.
»Wie sieht‘s aus, ein paar letzte Worte?«, fragte er.
»Was, keine großspurige Gerichtsverhandlung? Im Namen Lenins verurteilen wir Baron Klingenberg wegen konterrevolutionärer Umtriebe zum Tode. Wir werden eine glorreiche Zukunft für alle Werktätigen aufbauen. Gestalten wie ihr habt in unserer Welt keinen Platz mehr. Wir werden das Ungeziefer mit Stumpf und Stiel ausrotten. Und dabei auch eure Kinder nicht vergessen. Blablabla.«
»Blablabla«, sagte der Soldat.
Jetzt war dieses Geräusch deutlich näher, irgendwo über den Wipfeln am Ufer. Die anderen hörten es ebenfalls und blickten sich suchend um.
»Da«, sagte Pjotr.
Ein schwereloser Koloss tauchte aus dem Wald empor. Schwerelos, aber nicht lautlos. Eine gigantische dunkle Hülle mit ohrenbetäubenden Motoren, wie ein Wal, der aus dem Meere springt, stieg sie aus den Baumwipfeln. Nur dieser Wal blies nicht, und er stürzte auch nicht zurück ins Meer der Bäume, sondern er flog weiter und weiter, auf uns zu und über uns hinweg.
Wir starrten hinauf, bestaunten das riesige Luftschiff, die Persenning auf dem Gerippe eines Titanen, die Gondeln unter seinem Bauch. Ein Scharren auf dem Eis lenkte mich ab. Ich blickte zu den Soldaten und bemerkte, dass Pjotr blindlings zur Seite wich, auf das Loch zu. Ein kleines Stück weiter, und ... Zu schön, um wahr zu sein. Noch immer zog über uns das Schiff hinweg. Gebanntes Staunen, zwei weitere stolpernde Schritte. Na komm schon, verdammt. Zwei Gewehre deuteten auf mich, aber achtlos, denn alle Blicke richteten sich gen Himmel. Auch die von Pjotr. Und jetzt trat er ins Leere, schrie auf und kämpfte um sein Gleichgewicht. Die Gewehre schwenkten herum. Zwei Männer versuchten, ihn noch rechtzeitig zu halten. Ich schwang die Axt und ließ sie auf den Nacken des einen Mannes niedersausen. Er schlug lang hin und riss mir dabei die Axt aus der Hand.
Pjotr brach ins Eis und versank im eisigen Wasser. Das Gewehr des Mannes, den ich erwischt hatte, rutschte über das Eis. Ich sprang vor, der Anführer sprang vor. Er griff nach der Waffe, ich trat ihm meinen Stiefel ins Gesicht. Ächzend rollte er zur Seite, robbte sofort herum und blickte in den Lauf des Gewehrs. Er ließ sich zurücksinken und atmete tief aus. Er musterte mich. Mein Tritt hatte ihm die Nase gebrochen.
»Jammerschade«, sagte er und schenkte mir ein blutiges Lächeln.
»Jammerschade«, sagte ich und drückte ab.
Ein Soldat übrig. Er stand neben dem Loch, in dem Pjotr gurgelte und plantschte, und blickte mich unschlüssig an. Pjotr grapschte nach seinen Stiefeln. Seine klammen Finger fanden selbst an dem rissigen Leder keinen Halt. Noch ein kurzes Überlegen, ein Abwägen seiner Chancen, dann ließ der Mann das Gewehr auf das Eis fallen. Mit weit aufgerissenen Augen stierte er mir entgegen.
Ich richtete den Lauf auf ihn, trat näher und hob seine Waffe auf.
Noch immer starrte er mich an. Pjotr zerrte an ihm, japste und spuckte, bemerkte wahrscheinlich gar nicht die Gefahr.
Ich nickte dem Mann zu.
»Ich kann leider nicht zum Essen bleiben«, sagte ich. »Aber danke für die Einladung.«
Dann wandte ich mich ab und schritt vom Eis.
»Na komm schon, mach dich nicht so schwer«, hörte ich hinter mir ein leises Fluchen, während ich den Hang hinauf zu meinem Pferd stieg.
Das Luftschiff hatte sich inzwischen entfernt. Das Geräusch der Motoren verklang langsam zum Horizont hin. Ich setzte den Fuß in den Steigbügel und saß auf. Das Pferd tänzelte. Ein unruhiger Geist.
Ich blickte zum Himmel und verfolgte das Schiff mit dem Blick. Es flog Richtung Südosten, Richtung Wladiwostok.
Gut. Genau dort wollte ich sowieso hin.