Bei der Belagerung einer Festung stößt die Armee des assyrischen Königs Nimrod auf ein seltsames Wesen: Semiramis ist das Ergebnis der genetischen Experimente der Künstlichen Intelligenz Gott. Sie landet als Kampfsklavin am Hofe des Königs und wird bei dessen Eroberungskriegen zur unverzichtbaren Geheimwaffe. Nach Nimrods Tod wird sie von dessen Sohn Ninyas mit Hilfe der Erzengel aus der Hauptstadt Ninive vertrieben. Am Fuße eines aufgegebenen Weltraumaufzuges erbaut sie die Stadt Babylon mit den berühmten hängenden Gärten. Als sie auch dort von Ninyas und den Erzengeln angegriffen wird, bricht sie zusammen mit dem gefallenen Engel Luzifer und seiner defekten Sicherheitskopie Satan ins All auf, um Gottes Weltraumstation zu erobern. Der Supercomputer entschließt sich daraufhin ebenfalls zu drastischen Maßnahmen: zur Anrichtung einer Sintflut …
Die kybernetischen Gärten von Babylon
€15,95
Michael Böhnhardt – Die kybernetischen Gärten von Babylon
Paperback, 332 Seiten
ISBN 978-3-95556-164-2
Kategorie: Science Fiction allg. Reihe
Schlagwörter: Phantastik, Phantastische Bibliothek, Science Fiction
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Prolog: Die Festung
Eine solche Kreatur hatte Ninyas noch nie zuvor gesehen. Sie schien sehr jung zu sein und überaus scheu. Nackt kauerte sie auf dem Gitterboden des Käfigs, ohne die Menschen zu beachten, die sie anstarrten. Die Gestalt wirkte menschlich, die Haut ledrig und derb, die flackernden Feuer in den Eisenschalen, die das Zelt erleuchteten, verliehen ihr eine bronzene Färbung. Die Finger waren zu lang und endeten in scharfen Krallen. Aus der rötlichen Mähne auf dem Kopf ragten zwei verdrehte Hörner hervor. Es war ein Chaoswesen, unverkennbar der wirre Mischmasch, den diese alle aufwiesen. Ninyas fragte sich erneut, wie Gott solche Wesen geschaffen hatte. Er stellte sich gern vor, wie er selbst zusammen mit seinem griesgrämigen Lehrer Tenadesch in dessen unterirdischen Gewölben saß, im rußenden Fackellicht, vor sich ein zuckendes, halbfertiges Bündel auf der Werkbank; wie er immer wieder blindlings in ein Gehege mit blökendem oder jaulendem Getier griff, dem gepackten Wesen das gerade benötigte Körperteil abriss und an sein blutiges Machwerk annähte – und es dann irgendwie vollbrachte, dass dieses Sammelsurium lebte und atmete und herumlief, als sei es in dieser Gestalt geboren worden. Dieses Geschöpf im Käfig stammte eindeutig vom Menschen ab, jedenfalls größtenteils, nur einzelne Teile waren wohl dem Tierreich entnommen.
»Was ist das?«, fragte sein Vater.
Außer Ninyas befanden sich sechs Männer im Zelt: sein Vater Nimrod, die vier Männer der königlichen Leibwache, die den Käfig hereingeschleppt hatten, und dieser Kerl mit vielen leeren Versprechungen, die er bald bereuen würde. Er hieß Simmas, wenn Ninyas das richtig verstanden hatte, aber es schien kaum lohnenswert, sich den Namen zu merken. Sein Vater wirkte verärgert, und Leute, die eine solche Verstimmung beim König hervorriefen, pflegten nicht sehr lange zu leben.
»Sie hört auf den Namen Semiramis«, sagte Simmas.
»Sie?«, murmelte Ninyas. Er trat näher an den Käfig heran und suchte nach Merkmalen, die ihn das Geschlecht der Kreatur hätten erkennen lassen.
»Ja, das ist ein Mädchen.« Der Mann war ungewöhnlich alt für einen Söldner, aber die Jahre des Kämpfens hatten an seinem Körper auch ihre Spuren hinterlassen. Manche der Narben zeugten von Verletzungen, an denen die meisten Menschen gestorben wären.
Ein Mädchen. Wenig bemerkenswert. Ninyas erinnerte sich an die Sklavin, die ihm sein Vater zu seinem vierzehnten Geburtstag vor ein paar Monden hatte zuführen lassen. Bei dieser war unverkennbar gewesen, dass es sich um eine Frau handelte.
»Es kümmert mich nicht, wie du sie nennst«, sagte sein Vater. »Was denkst du dir dabei? Nur ein Narr hofft, er könne diese Biester beherrschen. So wie der König von Akkad, der einen geflügelten Stier zähmen wollte. Das ging eine Weile gut, und die Leute haben sich mit Tributen geradezu überboten, doch dann ist das Monster eines Tages durchgedreht und hat auf dem Marktplatz ein Blutbad angerichtet.«
»Ich habe davon gehört.«
»Niemand konnte das Vieh aufhalten. Speere, Pfeile, Steine, alles prallte von ihm ab.«
»Das macht sie so wertvoll.«
»So dachte der Akkadier auch. Bis er selbst tot im Staub lag. Das Scheusal hörte erst auf, als es ihm einfach zu langweilig wurde, und trottete dann aus der Stadt.«
»Ihr wollt Zariaspa einnehmen, habe ich gehört, und mit Semiramis kann ich Euch das ermöglichen.«
»Wie soll das gehen?«, fragte Ninyas. »Das ist ein kleines Mädchen.«
»Du hast sie zum Kämpfen ausgebildet?«, fragte sein Vater.
»Sie ist ein Naturtalent«, sagte Simmas.
»Das ist ein kleines Mädchen«, beharrte Ninyas.
»Das täuscht«, sagte sein Vater. »Die wie Menschen aussehen, das sind die Gefährlichsten. Sie sind meist nicht so stark wie die anderen, aber ebenso gepanzert. Und immer noch viel stärker und schneller als wir Menschen. Außerdem sind sie intelligent, sie können denken wie wir. Ich wusste nicht, dass es Weibchen gibt. Ehrlich gesagt, habe ich noch nie ein Weibchen gesehen, von keiner Art.«
»Wo es männliche Kreaturen gibt, muss es auch weibliche …«, sagte Simmas.
»Belehre mich nicht.«
»Verzeiht, mein König.«
Ninyas beobachtete seinen Vater. Der König dachte nach. Meist war es Ninyas nicht möglich, Nimrods Gedanken zu erraten, dazu waren sich Vater und Sohn zu fremd, doch diesmal waren die beiden Positionen, zwischen denen Nimrod schwankte, leicht zu erraten: Er hatte schwere Bedenken, eine Waffe einzusetzen, von der er bezweifelte, sie unter Kontrolle behalten zu können; andererseits lag da draußen eine Stadt, die ihrer Belagerung nun schon so lange widerstand. Anscheinend verfügten sie im Schutz ihrer Mauern über Unmengen an Vorräten, während ihren eigenen Männern langsam die Bäuche zu knurren begannen.
Ninyas hatte gewagt, seinen Vater zu fragen, warum er diese Festung unbedingt erobern wollte. Sie befanden sich in einer abgelegenen, unwichtigen Ecke der Welt, und nachdem fast alle anderen Städte hier in Baktrien sich kampflos unterworfen und zu Tribut verpflichtet hatten, was kam es da auf diese winzige Festung an? Nimrod hatte ihn verprügelt, »weil jemand aus königlichem Blut die Antwort schon mit der Muttermilch aufgesogen haben sollte«.
Sie wäre das eine Beispiel, das den anderen zeigt, dass Widerstand gegen Assur erfolgreich sein kann.
»Alle Nahrungsvorräte dieser Gegend befinden sich offenbar in der Festung«, sagte Simmas. »Die Mauern sind an sich schon beeindruckend, wären es selbst ohne die Zitadelle, die sie da auf dem Berg haben.«
Das war wohl wahr. Tag für Tag rannten sich die Männer ihre Schädel an den unbezwingbaren Stadtmauern ein, während die Belagerten abgenagte Knochen herabwarfen und sie von der Zitadelle aus mit Pfeilen und Katapulten beschossen wurden.
»Du würdest sie auf die Zitadelle loslassen?«, fragte sein Vater.
»So habe ich mir das gedacht.«
Ninyas schüttelte den Kopf. Die beiden redeten, als säße in dem Käfig ein wildes muskelbepacktes Tier.
»Dann lass sie mal raus«, sagte Nimrod.
Simmas nickte, trat zum Käfig und öffnete die Tür. Sofort war das Wesen auf den Beinen und stand direkt vor ihm. Ja, es war ein Mädchen, ein Kind, noch einige Jahre von jeglicher Geschlechtlichkeit entfernt.
»Ganz ruhig, Mira«, sagte Simmas. »Alles wie immer. Es gibt eine Kleinigkeit zu erledigen.«
Das Wesen schlüpfte durch die Tür. Es wanderte durch das Zelt, musterte die kostbaren Stoffe und Felle, strich über manche streichelnd hinweg, tanzte weiter und blieb vor dem König stehen. Die Wachen setzten sich in Bewegung, doch sein Vater befahl sie mit einer Geste zurück.
»Das ist unser König, Nimrod«, sagte Simmas. »Wir haben denselben Feind, da draußen im Staub. Zu dieser Stadt dort habe ich die Spur deiner Mutter verfolgt, und wenn wir sie zusammen erobert haben, finden wir jemanden darin, der weiß, wo sie ist.«
»Das sagst du jedes Mal.«
Ninyas war überrascht, dass das Wesen tatsächlich sprach. Die Stimme wirkte kaum kindlich, sie besaß einen dunklen, bedrohlichen Unterton. Allein dieser Ton bewirkte, dass sein Vater sich unwohl fühlte. Ninyas erkannte es genau, die Anspannung der Muskeln, die geweiteten Augen. Er erwartete einen Angriff. Er fürchtete sich. Vor einem Mädchen.
»Willst du die Suche aufgeben?«, fragte Simmas.
Ninyas schlich sich langsam näher heran. Das war die Gelegenheit, seinem Vater zu beweisen, dass er keine Furcht kannte, wo dieser welche zeigte. Jetzt stand er neben dem Geschöpf und tippte mit dem Finger an die ledrige Haut ihres Oberarms. Sie hatte etwas Schlangenhaftes ...
Im nächsten Augenblick lag er am Boden, ohne zu wissen, wie er dort gelandet war. Sie hockte auf seiner Brust und ihre Krallen bohrten sich in seine weiche Kehle. Die Wachen reagierten sofort. Zwei Speere stießen in Semiramis’ Richtung, sie duckte sich unter einem durch, eine Rolle, sie sprang in die Höhe, im nächsten Augenblick packte sich der Mann mit beiden Händen an den Hals. Zwischen seinen Fingern strömte Blut hervor. Röchelnd sank er in die Knie und kippte dann zur Seite.
»Mira!« Simmas drängte sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Beide wichen etwas zurück.
»Genug«, sagte sein Vater. Der zweite Wachmann senkte den Speer und nahm eine entspanntere Haltung an. Aber nicht viel entspannter.
»Tut mir Leid, mein König«, sagte Simmas. »Sie dachte, er greift sie an.«
»Das ist mein Sohn. Niemand erhebt seine Hand gegen mein Fleisch und Blut.«
»Sie wusste nicht, wer er ist.«
»Niemand erhebt …«
Simmas nahm seine Hand von der Schulter des Wesens und trat etwas zur Seite. Semiramis blickte kurz zu ihm auf und lächelte. Ein paar Spritzer Blut sprenkelten ihre Wangen.
Sein Vater runzelte die Stirn. Dann winkte er ab. »Aber du hast Recht. Sie wusste nicht, wer er ist. Und er hat sie erschreckt.« Er deutete auf den Leichnam am Boden. »Mir wäre es lieber, wenn die nächsten Toten Baktrier sind.«
»Deshalb sind wir hier«, sagte Simmas. Er nahm Semiramis’ Hand und führte sie zum Zelt hinaus.
Ninyas stand langsam auf. Er spürte den zornigen Blick seines Vaters auf sich und wich ihm aus. Das Blut des Wachmannes sickerte noch immer in den Sand.
»Ich mag es nicht, wenn gute Männer sterben, nur weil du Dummheiten machst.«
Überrascht blickte Ninyas auf. Niemals zuvor hatte sein Vater vor Zeugen so mit ihm gesprochen. Seine Blicke wanderten durch das Zelt. Sie waren allein. Der König hatte seine Wachen hinausgeschickt, bevor er solche Worte an seinen Sohn richtete.
»Wenn er ein so guter Kämpfer war, warum liegt dann er tot am Boden und nicht dieses kleine Mädchen?«, fragte Ninyas.
Der Faustschlag riss ihn von den Füßen und warf ihn auf den Leichnam. Angewidert blickte er auf das Blut, das sich in seine Kleidung sog.
»Wenn du über die Kampfkünste eines Mannes spotten willst, solltest du sie besser übertreffen, findest du nicht?«
Als Ninyas es wagte aufzublicken, hatte sein Vater das Zelt bereits verlassen. Langsam stand er auf. Er überlegte kurz, die blutige Kleidung zu wechseln. Als ihm dieser Gedanke bewusst wurde, brannte sein Gesicht vor Scham.
Zögernd verließ er das Zelt. Das nächtliche Heerlager war hellwach. Obwohl peinlich jedes Geräusch vermieden wurde und mit dem Tode bestraft würde, vibrierte die Nacht vor unterdrückter Spannung. Ninyas warf einen Blick hinauf zu den Sternen. Lange würde der Morgen nicht mehr auf sich warten lassen.
Simmas und seine Kriegerin waren längst von der Nacht verschluckt worden. Etwas weiter vor sich sah er seinen Vater, eskortiert von seiner Leibwache. Er folgte ihm in Richtung der belagerten Stadt. Im Dunkeln war Zariaspa einfach ein massiger schwarzer Klotz, der sich an einen zerklüfteten Berg schmiegte, doch Ninyas hatte die Stadt oft genug betrachtet, um sie jetzt vor seinem geistigen Auge deutlich genug zu sehen. Ihre Erbauer hatten die natürlichen Gegebenheiten bestens ausgenutzt: Der Berg selbst flankierte einen Großteil der Festung, die Seite zur Ebene hin wurde von einer hohen Mauer geschützt, die hervorragend durch die Zitadelle auf dem Berg gedeckt werden konnte. Wer gegen die Mauern anrannte, begab sich in das Schussfeld von Bogenschützen und einigen Katapulten. Die Bergbastion erreichte man nur von der Stadt aus, über Wege mit einholbaren Leitern; alle anderen Zugänge hatten die Erbauer noch unzugänglicher gemacht, als sie ohnehin schon waren. Niemand hatte es bei Tageslicht vermocht, über den Berg hinweg zu diesem Vorposten vorzudringen, und in der Dunkelheit der Nacht war es erst recht ein unmögliches Unterfangen.
Für jeden Menschen.
Auf einem flachen Hügel auf der Ebene war sein Vater stehengeblieben. Ninyas näherte sich ihm leise und verharrte ein paar Schritte hinter ihm. Er starrte zu den Felshängen, aber natürlich konnte er nichts erkennen. Irgendwo dort musste sie sein. Wie gut konnte sie in der Dunkelheit sehen? Auf wie glatten Felshängen würden ihre Krallen noch immer Halt finden? Über wie breite Felsspalten konnte sie einfach hinwegspringen?
Ein bisschen mehr Druck auf die Krallen an seinem Hals und er wäre es gewesen, der dort im Zelt verblutete. Wie hätte sein Vater darauf reagiert? Niemand erhebt seine Hand gegen mein Fleisch und Blut.
Hätte er überhaupt etwas gegen Semiramis tun können? Weder Simmas noch die Kleine hatten auch nur die Spur von Besorgnis gezeigt.
Irgendwo oben vom Berg ertönte ein Schrei, der matschig gurgelnd abriss. Dann Gepolter, Alarmschreie. Jetzt wurde es richtig laut. Ninyas beobachtete, wie sich ein schwarzer Pulk über die Ebene der Stadt näherte. Er blieb völlig unbeachtet. Die Wachen auf den Mauern waren offenkundig zu sehr mit dem abgelenkt, was über der Stadt diesen Radau aufführte. Gerade stürzte ein nachtschwarzer Schatten schreiend von oben in die Tiefe und prallte auf die Mauer. Dann noch einer.
Zwei Gestalten hangelten sich hektisch an Seilen hinab. Von den Mauern klangen Rufe, als keiner der Kletternden antwortete, flogen Pfeile. Die Baktrier waren gute Schützen; beide Gestalten lösten sich vom Felsen und stürzten hinab.
»Sie hätten mal besser die Parole gewusst«, sagte Nimrod.
Ihre Kämpfer waren unbehelligt bis zur Mauer vorgedrungen. Die ersten Haken waren wohl geflogen, jetzt hievten sich schwarze Gestalten die Mauer hinauf.
Ninyas war sich nicht sicher, er hatte vielleicht einen Schatten von der Zitadelle hinabgleiten sehen, dann hörte er Geschrei auf der Mauer und wusste, dass er sich nicht getäuscht hatte.
»Sie ist ihr Gewicht in Gold wert«, sagte sein Vater.
»Sie ist ein Monster«, sagte Ninyas.
»Das wolltest du mir ja nicht glauben.«
Inzwischen hatte sich ihre Streitmacht in Bewegung gesetzt. Hufe und Sandalen schritten durch den Sand, Ninyas fühlte ihr Echo in seinen Eingeweiden.
»Wir sollten uns beeilen«, sagte Nimrod. »Könige sollten in der Schlacht möglichst weit vorn zu finden sein.«
Als sie das Tor erreicht hatten, stand es weit offen. Die Angreifer stürmten schreiend und mit gezücktem Schwert hinein. Auch Ninyas zog sein Schwert.
»Bleib an meiner Seite«, sagte sein Vater. »Wir müssen die beiden suchen und unschädlich machen.«
»Was?«
»Hast du nicht bemerkt, wie mir dieser Mann gedroht hat? Wer wird ihn davon abhalten, diese Kreatur das nächste Mal gegen mich einzusetzen?«
Nimrod winkte seinen Männern und stürmte durch das Tor. Ninyas trottete ihm nach. Natürlich hatte sein Vater Recht, aber hatte er nicht gerade beobachtet, wie das Mädchen im Alleingang eine ganze Zitadelle außer Gefecht gesetzt hatte? Wie genau gedachte er, sie unschädlich zu machen?
In der Stadt tobte das Gemetzel. Überall Feuer und Qualm, Schreie, das Klirren von Klingen, dumpfe Schläge. Ninyas hastete hinter seinen Vater her. In einer Seitengasse hatten zwei Söldner eine Frau in die Enge getrieben, aus einer Tür neben ihnen trugen andere Säcke und gackerndes Geflügel heraus.
Vor ihnen schrie jemand. Ninyas wandte den Blick nach vorn, prallte jedoch noch auf seinen Vater, bevor er anhalten konnte. Er taumelte zur Seite und versuchte, in dem Rauch vor ihnen etwas zu erkennen.
Es waren Simmas und sein Schützling, und jemand, auf dem Semiramis saß. Simmas stand unruhig im Hintergrund, er spähte mit dem Schwert in der Hand nach allen Seiten. Das Wesen saß auf einem Mann, der auf dem Boden zuckte. Er lag auf dem Rücken, beide Beine und beide Arme waren in unmöglichen Winkeln verdreht.
»Sie sieht aus wie ich«, sagte sie. »Erzähl mir nicht, sie wäre dir nicht aufgefallen.«
Ninyas trat näher und erkannte, dass der Mann nicht nur wegen seiner gebrochenen Gliedmaßen so schrie. Das Mädchen hatte sich mit ihren Krallen von der Seite aus in seinen Bauch gebohrt und wühlte darin herum. Jetzt zog sie gerade langsam ihre Hand zurück und zerrte dabei eine glitschig glänzende Darmschlinge mit hinaus.
»Also, wo habt ihr sie hingebracht?«, fragte sie.
» … nicht, wovon du …«
Sie zog ein gutes Stück weiteren Darm aus der Wunde heraus. Der Mann schrie.
»Du suchst deine Mutter«, sagte Ninyas.
Semiramis wandte ihm das Gesicht zu.
»Wie kommst du darauf, dass er weiß, wo sie ist?«, fragte er.
Jetzt blickte sie zu Simmas.
Nimrod lachte auf. »Findest du es nicht seltsam, dass er immer Geld dafür bekommt, wenn du bei bestimmten Leuten nach …«
»Komm her«, sagte Simmas. Semiramis sprang auf und rannte auf ihn zu. Dabei zog sie einige weitere Meter Eingeweide heraus.
»Lass das los, Mira«, sagte Simmas. Sie ließ ihr Ende in den Sand plumpsen.
Nimrod trat neben den sterbenden Mann und blickte auf den gemarterten Körper hinab. »Man sollte euch beide verbrennen«, sagte er. Dann stieß er seine Klinge dem Mann ins Herz. »Ein grausameres Wesen als dich habe ich noch nie getroffen. Und es soll Leute geben, die mich selbst grausam nennen.«
Ja, solche Leute sollte es geben.
»Er wollte nicht sagen, wo meine Mutter ist«, sagte Semiramis.
»Das ist wahrlich schändlich«, sagte Nimrod. »Seid wann suchst du denn nach deiner Mutter?«
Simmas knurrte.
Nimrod winkte seiner Leibwache. »Niemand bezweifelt, dass uns die Kleine problemlos in unsere Einzelteile zerlegen kann. Aber fünf Pfeile sind genau auf dich gerichtet, und was auch mit uns geschieht, dich wird es auf jeden Fall erwischen. Also erzähle!«
»Was sie mit euch anstellen wird, wenn ihr mir was tut, könnt ihr euch gar nicht vorstellen. Das Blutbad hier ist nichts …«
»Da hege ich keinen Zweifel«, sagte Nimrod. »Aber vielleicht müssen wir alle nicht sterben, wenn du einfach erzählst.«
Simmas zögerte kurz, dann sagte er: »Muss so elf Jahre her sein, als sie an unserer Hütte auftauchte. Wir lebten als Hirten in den Bergen, meine Familie und ich. Jedenfalls, eines Abends stolperte sie durch unsere Tür. Eine Frau, ein weibliches Chaoswesen mit Hörnern und Krallen und wild wie ein in die Enge getriebenes Raubtier. Sie stöhnte und jaulte, als sei sie schwer verletzt. Doch dann sahen wir, dass sie in Wirklichkeit gerade jetzt ein Kind bekam.«
»Sie hat geglaubt, sie schafft die Geburt vielleicht allein«, sagte Semiramis. »Aber sie hat sich in der Nähe einer menschlichen Behausung versteckt, falls sie doch Hilfe braucht. Und so ist es dann auch gekommen.«
»Du weißt aber gut Bescheid, was sie sich so gedacht hat«, sagte Ninyas.
»Sie selbst hat es mir erzählt.« Sie blickte zu Simmas. Dieser knurrte noch mehr, dann kramte er in seinem Beutel herum und holte einen Erinnerungskristall hervor. Ninyas runzelte die Stirn. Sein Vater hatte ein paar davon, kostbare Geschenke der Erzengel. Wie ein Söldner an so etwas kam, war mehr als verwunderlich.
Simmas stellte den Kristall auf den Boden und aktivierte ihn. Sie mussten näher heran, um das lebende Bild darin zu erkennen, aber wenn Semiramis sie töten wollte, hielten auch ein paar Schritte mehr Abstand sie nicht davon ab.
Die Gestalt ähnelte dem Mädchen, war allerdings erwachsen. »Hallo Semiramis«, sagte sie. »Ich hoffe, ich kann dir das alles später persönlich erzählen, aber für den Fall, das es nicht so kommt, versuche ich dir auf diesem Wege alles mitzuteilen, was du wissen musst. Mein Name ist Lilitu. Dein Vater hieß Belizal. Er ist als Held im Kampf gegen Gott gefallen. Allerdings gibt es nicht viele gute männliche Seraphim wie ihn. Auch wenn Luzifer mich immer vom Gegenteil zu überzeugen versuchte, diesen Kerlen ist einfach nicht zu trauen. Geh ihnen aus dem Weg. Aber noch wichtiger, geh diesen Metallengeln aus dem Weg. Die sind sogar noch schlimmer. Sie sind hinter mir her, und wohl auch hinter dir …«
»Metallengel?«, fragte Ninyas. »Meint sie die Erzengel?«
»Ja, die meint sie wohl«, sagte Simmas. »Jedenfalls ist sie bei mir aufgetaucht, weil die Geburt nicht so einfach lief. Wir haben ihr geholfen. Die ganze Zeit hat sie geschrien: ›Sie sind hinter mir her.‹ Endlich war das Kind draußen. Es ging der Mutter sehr schlecht. Trotzdem sollten wir alle verschwinden und das Kind mitnehmen. Mit ihren Verfolgern sei nicht zu spaßen. Da es ihr so schlecht ging, haben wir sie in der Hütte gelassen. Ein paar Tage später bin ich zurückgekehrt, um sie nachzuholen. Da war die Hütte geplündert und die Mutter verschwunden.«
»Und woher weißt du, wer die Plünderer waren?«, fragte Nimrod.
»Über einen Trupp Marodeure reden die Leute, insbesondere, wenn sie ein solch auffallendes Wesen als Gefangene haben.«
»Und was habt ihr gemacht?«
»Gar nichts. Ich hatte eine Familie zu beschützen und zudem nun ein zusätzliches Kind. Wir haben jahrelang in Frieden gelebt, bis sie uns gefunden haben. Jetzt waren sie hinter Semiramis her. Sie haben uns überfallen, meine Frau und meine Kinder sind tot. Doch sie hatten Pech. Niemand von uns hat geahnt, wie böse die Kleine hier werden kann. Das war vor zwei Jahren. Seitdem suchen wir ihre Mutter und seitdem hat sie noch einiges hinzugelernt.«
»Ich glaube, du lügst«, sagte Ninyas.
»Wie meinst du das?«, fragte sein Vater.
»Ich glaube, er wusste ganz genau, wie böse die Kleine werden kann. Er hat schließlich die Mutter gesehen. Und als die Geburt dann vorbei war und er das Kind in der Hand hielt, hat er seine Chance erkannt: So verletzlich wie jetzt wird dieses Wesen niemals wieder sein. Und wenn er sie erledigt und dann das Kind selbst aufzieht, kann er ihm alles erzählen. Er kann es kämpfen lassen, gegen wen er es für richtig hält. Kein schlechter Dreh, den er sich dafür überlegt hat: Er erzählt dem Mädchen, sie hätten seine Mutter verschleppt, und schon massakriert es los.«
»Völliger Unsinn«, sagte Simmas.
»Wie viele Ortschaften oder Armeen hat er dich schon angreifen lassen? Und, wusste jemand etwas über sie? Aber er hat später immer wieder Neuigkeiten über sie aufgeschnappt. Das ist Unsinn.«
»Lass uns gehen, Kleines«, sagte Simmas.
»Er hat sie umgebracht. Sie war hilflos und am Ende ihrer Kräfte. Sie war zu ihm gekommen, weil sie Hilfe brauchte, doch stattdessen hat er ihr Kind gestohlen und sie umgebracht.«
»Jetzt reicht es …« Etwas in seinem Tonfall ließ Semiramis offenbar aufhorchen. Ninyas selbst hätte nicht es nicht entdeckt, aber er kannte die beiden auch kaum. Sie jedoch erkannte wohl, dass die Anschuldigungen ihn getroffen hatten.
»Du hast sie wirklich umgebracht«, sagte sie.
»Was redest du da?«
»Er hat Recht, nicht wahr? Du hast sie umgebracht.«
Simmas wich zurück. Er stieß gegen den Kristall und aktivierte ihn dabei.
»Glaub mir, ich bin so froh dass du ein Mädchen bist …«
»Du hast sie …«
»Sie hat die Geburt nicht überstanden. Du wolltest einfach nicht raus. Schließlich schrie sie mich an, ich solle dich rausschneiden, doch nichts in der Hütte war scharf genug, durch diese Panzerung zu schneiden, die ihr habt. Hol sie da raus, hat sie geschrien, hol sie da raus. Wie denn … Hol sie da raus, hol sie da raus …«
»Luzifer hat gesagt, das wären Ausnahmen, sie seien nicht alle so. Doch, das sind sie. Männliche Seraphim sind Bestien. Einer so schlecht wie der andere. Grausam und gewalttätig, nicht besser als Tiere …«
Simmas schrie voller Schmerz. Seine Stimme hatte bald alles Menschliche verloren.
»Hol sie da raus!«, kreischte Semiramis.
»Deswegen war ich so froh, als Luzifer mir sagte, dass du ein Mädchen bist. Ich weiß nicht, ob ich einen Sohn so hätte lieben können, wie ich dich lieben werde.«
Ninyas ging in die Hocke und schaltete den Erinnerungskristall aus. Simmas hechelte, dunkler Schaum verkrustete seine Lippen, seine Augen waren weit aufgerissen und starrten mit einem verlöschenden Glimmen ins Leere. Semiramis hockte neben ihm, blutverschmiert, und wiegte sich summend vor und zurück.
»Männliche Seraphim sind Bestien«, sagte Nimrod. »Bloß gut, dass sie nur ein Mädchen ist.«
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