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Vilm (2) – Die Eingeborenen

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Vilm (2) – Die Eingeborenen

Karsten Kruschel
epub, 224 Seiten

Kategorie: Karsten Kruschel - Das Universum nach Landau Schlagwörter: Weltraumabenteuer, Space Opera, Science Fiction, Karsten Kruschel
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Ausgezeichnet mit dem Deutschen Science Fiction Preis 2010

So hatten sich das die Retter an Bord der Armorica nicht vorgestellt: Statt sich evakuieren zu lassen, fordern die Schiffbrüchigen der Vilm van der Oosterbrijk, dass ihr Planet als unabhängige Welt anerkannt wird. Damit lösen sie eine diplomatische Krise aus, denn der wenig attraktive Regenplanet weckt unerklärbare Begehrlichkeiten: beim Flottenkommando auf Atibon Legba, der Goldenen Bruderschaft, den Päpsten von Vatikan, bei Versicherungskonzernen und Journalisten. Die Vilmer, deren ganzer Reichtum aus einer riesigen Schutthalde besteht, scheinen all dem hilflos ausgeliefert. Aber sie bringen ihre Widersacher immer wieder ins Grübeln, nicht zuletzt über die Frage, ob Vilmer überhaupt noch Menschen sind.

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1. Der glückliche Lotse

Eine Runde von Kapitänen saß beisammen, an einem geräumigen Sechsertisch, von dessen Sitzplätzen einer sorgsam freigehalten wurde. Das wäre nicht nötig gewesen: Es wäre niemand auf den Gedanken gekommen, sich zu ihnen zu setzen. Touristen verirrten sich nicht in die »Laterne«, und wer sich hier auskannte, wusste, dass dieser Tisch traditionell Besitz der Kapitäne war. Wenn der Raumhafen voll war und die Kasse der »Laterne« richtig klingelte, mussten einige Stühle herangestellt werden. Zu anderen Zeiten kam es vor, dass ein oder zwei Raumschiffkommandanten einsam an dem Tisch hockten.
Die »Laterne« war eine Lokalität auf Atibon Legba, die unter Raumfahrervolk weniger wegen der Kapitänsrunde bekannt war als wegen ihres ausgefallenen Raumschmucks – nicht nur Schmuck, sondern auch makabre Warnung und Beispiel. In einem polierten Glaskasten, direkt dem Eingang gegenüber, wurde ein Laternenflamingo gezeigt, der von Steinstrahlung getroffen worden war, wie sie den Legenden nach hin und wieder bei den Grauen Sonnen vorkommen soll. Er hatte sich unter dem Einfluss des mysteriösen Strahls langsam in geäderten Stein verwandelt. Natürlich sah er gut aus, der elegante Ziervogel, noch im steinernen Tod anmutig. Und doch wirkte der eigenartige Raumschmuck wie eine Warntafel: dass es unnatürlich wäre, seine Grenzen zu überschreiten, Leben ins All zu tragen, dass man dafür bezahlen müsse. Diese Wirkung – wenn sie denn beabsichtigt war – verlor sich freilich rasch. Ständige Mahnung wird lächerlich, das Grausige anheimelnd durch Gewöhnung. Außerdem war jene Strahlung außerordentlich selten, und es gab eine Reihe von Wissenschaftlern und Medizinern, die ihre Existenz entschieden bestritten.
Die fünf, die heute am Kapitänstisch saßen, kannten sich lange; dementsprechend laut und lebhaft ging es her. In der »Laterne« wird eine Menge des seltsamsten Zeugs getrunken, und an diesem Tisch wird von Raumgegenden gesprochen, die keine sorgfältig geräumten und kartographierten Trassen haben und in denen das Fliegen mehr ist als eine Rechenaufgabe mit mehr oder weniger vorhersehbaren Unbekannten, die sich zufällig im Weltraum abspielt.
»Und jedes Mal«, röhrte Gaston Vliesenbrink mit seiner übermäßig lauten Stimme, »wenn man dort vorbeikommt, hat sich die Form dieser verflixten Wolke verändert. Sie teilt sich, stülpt Füße aus, zieht sich zusammen – als wäre sie lebendig!«
»Du bist dir sicher, dass du von der Nebula sciuri sprichst?«, erkundigte sich Punt, der unscheinbar und rundlich war und zweifelnd seine Glatze krauste, ehe er wieder an seinem schwarzen Bier nippte. Statt einer Antwort wies Vliesenbrink, der riesige Mann, der von Karna stammte, mit Heimat jedoch nicht viel im Sinn hatte, auf sein Gegenüber, den alten Schlunke, der nur nickte.
»Aber woher diese Bewegungen?«, fragte Punt verständnislos. »Das gibt‘s doch nicht – lebende Wolken im Kosmos!«
Alle sahen auf Tullama, der mal Physik studiert hatte und unter Kapitänen als weiser Uhu galt. Tullama zog es vor, vage mit dem Kopf zu wackeln und Äthyltee zu trinken. Dafür fing der Jüngste von ihnen, Claras, von dem niemand wusste, ob er Mann oder Frau war, mit wilden Spekulationen an, die sie grinsen ließen: in der Wolke verborgene Doppelsterne, verdeckte Novaausbrüche eines hypothetischen Sterns, Bombenexplosionen einer unbekannten Rasse, das vergessene Schwesterwesen des epsilonischen Raumschiffs, Löcher ins benachbarte Kontinuum, pulsierende Schwarze Löcher ...
»Wirklich toll, Claras«, donnerte Gaston Vliesenbrink, dass Tullama zusammenzuckte und Claras sein Geschwätz einstellte.
»Wie fliegst du denn nun, wenn du an dieser Wolke entlang willst?«, erkundigte sich Punt.
Vliesenbrink dämpfte seine Lautstärke. »Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du gehst auf Nummer sicher, machst den großen Umweg und verlierst zwei Wochen nebst einer gehörigen Menge Geld ... oder ... oder du hast einen wirklich guten Lotsen.«
»Du meinst Christoff Masurat?«
»Natürlich. Einmal ist er sogar mittendurch geflogen.«
»Also weiß der, was dort los ist?«, warf Claras mit überkippender Stimme dazwischen.
»Natürlich nicht. Er weiß lediglich, wie man heil vorbeikommt.«
»Woher, frage ich mich«, sagte der alte Schlunke nachdenklich.
»Er weiß es nicht in diesem Sinn. Wissen ist der falsche Ausdruck.« Vliesenbrink suchte nach Worten. »Er hat eine Art zusätzlichen Sinn für diese Dinge.«
»Einen Draht zum lieben Gott«, bemerkte Punt spöttisch; die Bemerkung ließ Schlunke zusammenzucken.
Vliesenbrink sah ihn mit ernstem Gesicht an. »Wenn du es so nennen willst – bitte. Ich glaube auch nicht, dass er jemals krank gewesen ist – oder es je wird.«
Tullama beugte sich vor, seine schwarze Stirn glänzte. »Und dieser Christoff kommt heute Abend her?«, fragte er.
»Er kommt«, sagte Schlunke, »da bin ich sicher. Schließlich will ich mit ihm etwas unternehmen.« Eine kurze Stille entstand, in der Punt ein kleines »Ach so?« hören ließ. Claras brach das Schweigen mit sanfter, heller Stimme – die reine Erholung gegenüber dem bullerigen Organ des Karnesen.
»Ich bin einmal mit ihm geflogen, und es war genau, ganz genau so, wie du sagst. Wir sollten eine Gruppe von Forschern abholen, denen im wahrsten Sinne des Wortes der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war. Der Planet war in eine Phase vulkanischer Aktivität getreten, und sie hatten nur Flugzeuge und kein Raumfahrzeug. Wie das so ist, ihr Mutterschiff hätte es nicht geschafft, und wir sollten sie rasch holen. Die armen Jungs – Blödsinn, es war eine reine Frauenexpedition –, also die armen Mädchen flogen praktisch nur noch mit ihren Gleitern und Schwebern umher. Überall mussten sie schnell wieder fort. Spalten taten sich auf, Erdbeben zerschüttelten alles, Lavaströme quollen hervor. Und wir hatten ein Problem: Irgendwo mussten wir unsere Kiste schließlich hinstellen. Ein Raumschiff ist kein Schweber, der mal eben zur Seite hüpft.«
»Du redet mit Raumkapitänen, musst du wissen«, sagte Schlunke ruhig und giftig, »nicht mit Bürotippsen aus der Zentralverwaltung.«
Claras schluckte hastig einen Großteil seines buntschillernden Mixgetränks hinunter und erzählte weiter, während Vliesenbrink ein mächtiges, üppig belegtes Brot verschlang. Karnesen nutzen jede Möglichkeit für einen Imbiss. »Wir wussten also nicht, wo auf diesem verflixten Planeten wir unseren Kahn für einige Stunden sicher hinstellen konnten. Alles war in Bewegung. Einer der Kontinente hatte zu versinken angefangen, unsere Computer waren total überfordert. Es war kein relativer Ruhepunkt zu errechnen.«
»Da hätten die Mädels doch in der Luft abwarten können«, warf Tullama ein.
»Treibstoff«, sagte Claras mit einer affektierten Handbewegung und fuhr fort: »Es schien alles zu spät zu sein. Jede erneute Flucht in die Luft reduzierte die knappen Vorräte. Von Luft konnte man strenggenommen nicht mehr reden – eine Brühe aus Rauch und fliegenden Felsbrocken. Wir hatten freilich unseren Christoff an Bord. Der sah sich zwei Umkreisungen lang das Chaos an, achtete nicht auf die jede Sekunde geänderten Prognosen der Bordrechner und tippte lässig an einen Punkt auf dem Tüftelglobus. Der war längst kein planetologisches Modell mehr, sondern funkelte wie eine Weihnachtskugel. Dort, an dem von Christoff vorgegebenen Punkt, landeten wir. Dort blieb es sechseinhalb Stunden ruhig, und nach fünf Stunden waren wir weg.
»Eine Ruhephase in der Tektonik«, sagte Tullama fragend. Claras lächelte ihn mit geschminkten Lippen strahlend an. »Später stellten wir fest, dass unser Landeplatz zu diesem Zeitpunkt der einzige stille Fleck auf dem ganzen verdammten Planeten gewesen war. Und dreißig Stunden später gab es überhaupt keine Planetenoberfläche mehr. Nur Lava, Schlamm und treibende Felsen. Die Frauen waren begeistert von dem Gedanken, wir hätten noch ein wenig länger gewartet ...«
»Die Computer konnten keinen Ruhepunkt berechnen«, sagte Tullama nachdenklich, »und er tippte einfach auf den Tüftelglobus ...«
»Also doch ein Draht zum lieben Gott«, wiederholte Punt, nicht mehr spöttisch. Schlunke warf ihm einen bösen Blick zu.
»Seid mir nicht böse«, meinte Punt, »ich habe all die unwahrscheinlichen Geschichten über Christoff Masurat immer für Blödsinn gehalten. Mehr oder weniger. Diese Verschwendung glücklicher Zufälle. Bis vor drei Jahren hielt ich nichts davon. Bis er mit mir geflogen war. Bis ich wusste, dass das eine entschieden unverdauliche Sache ist, über die man besser nicht nachdenkt.«
Gaston Vliesenbrink ließ seine riesige Faust auf den Tisch krachen und sah Punt mit komischer Verzweiflung an. »Hat dieser Mensch uns drei Jahre lang verschwiegen, dass er auch eine Christoff-Sache erlebt hat!«
Schlunke rüttelte prüfend an der Tischplatte, sie hatte dem Schlag Vliesenbrinks erstaunlicherweise widerstanden. »Erzähl!«, sagte Tullama.
Punt sah unsicher die anderen an. »Ich weiß nicht recht ... Na gut, ihr müsst mir ja nicht glauben. Es war in der Nähe von Boryon VIII, wo es diese Schürfstationen gibt, irgendwelcher seltenen Minerale wegen, die man sonst nirgendwo findet. Ich kenne mich da nicht aus. Die Leute dort mussten versorgt werden, ein paar tausend Köpfe, völlig abhängig von den Lieferungen aus A.L.; es gab allerdings ein kleines Problem. Das Boryon-System war in einen extrastellaren Meteoritenschwarm geraten, eine Lawine von Stein und Staub, die von irgendwo nach irgendwo rast.«
»Die vagabundierenden Müllkippen«, sagte Tullama und kratzte sich sein Kraushaar.
»Die gibt es doch nicht«, brummte Vliesenbrink, und Tullama lächelte nur. Weiß man‘s?, schien er zu fragen, und der große Gaston zuckte mit den Schultern.
»Dieser Strom war zu groß, um ihn rechnerisch erfassen zu können, und seine Geschwindigkeit war höher als alles, was man sonst im Inneren von Sternsystemen finden kann. Dieser Strom war eine langgestreckte Walze aus Trümmern, die sich mit mehr als einem Zehntel Lichtgeschwindigkeit bewegte. Deswegen kamen übliche automatische Transporter nicht an. Sie verschwanden im Strom, und man hörte nie wieder von ihnen. Kein Wunder, niemals waren sie für solche Extreme programmiert worden. Boryon VIII hatte Nahrung, Luft und Wasser für zwei Monate – und der verdammte Haufen rasender Steine würde über ein halbes Jahr lang jeden Transport verhindern. Also schickte man einen bemannten Transporter des Waraega-Typs los. Ihr wisst, wie stark die bewaffnet sind. Sie haben versucht, sich den Weg freizuschießen. Wochenlang. Sie kamen aus dem Strom heraus, kurz ehe der Treibstoff ausging.« Punt machte eine Pause und goss sich den Rest des Bieres die Kehle hinunter.
Die vier Kapitäne blickten Punt ungläubig an. Das war eine sehr unwahrscheinliche Geschichte. Die Waraega-Konstrukteure hatten es mit der Wehrhaftigkeit ihres Schiffes etwas übertrieben und den simplen Lastenträger fast zum Kampfschiff gemacht – deswegen wurden die Einheiten dieses Typs nach und nach aus dem Verkehr gezogen. Sie waren mit ihren waffenstarrenden Flanken einfach zu teuer.
»Sie tankten auf«, setzte Punt fort, »und flogen den Strom von einer anderen Seite her an. Dort hatten sie noch weniger Glück. Sie gerieten in innere Turbulenzen des Stroms, wurden vom Kurs abgedrängt und waren endlich in einer unmöglichen Situation. Sie hätten sich freischießen müssen, und eben das konnten sie nicht, weil ihre Salven sie zwar befreit, die Strahlenkegel jedoch unweigerlich auch Boryon VIII getroffen hätten. Und das ging ja nun nicht.« Der alte Schlunke nickte, er konnte sich das vorstellen. Und er hatte eine trübe Ahnung, was das Ende dieses unglücklichen Transporters anging. Er sah Punt an. Der nickte auch.
»Nach Tagen gab es einen Blitz im Strom, und es hatte den Transporter offensichtlich erwischt. Man weiß nichts über ihn. Womöglich hat er einen Raumsprung versucht – trotz der Nähe von festen Körpern – und ist sonstwo herausgekommen. Ich glaube, er ist explodiert. Die Versicherung hat jedenfalls anstandslos bezahlt.«
»Gott sei ihren armen Seelen gnädig«, sagte Schlunke leise.
»Du wolltest von Christoff erzählen«, sagte Tullama.
»Natürlich. Man schickte einen leichten Kreuzer in den Strom, denn die Leute auf Boryon VIII gerieten in echte Schwierigkeiten und mussten den Gürtel enger schnallen. Dieser Kreuzer kam zerschunden, mit entnervter Besatzung und völlig leergeschossenen Waffenspeichern nach zwei Wochen zurück, er hatte Boryon VIII nicht mal von Weitem gesehen. Immerhin hatte die Aktion den Gegenwert einer Jahresproduktion von Boryon gekostet. Den Gürtel enger schnallen konnten die Ärmsten auf der Bergwerkswelt zwar, ein Minimum an Sauerstoff jedoch braucht der Mensch zum Atmen. Nun wurde ich aus dem Urlaub geholt, und ehe ich mich versah, war ich mit der Arcadia auf der Reise nach Boryon VIII. Die Schlauköpfe wollten auf Nummer sicher gehen und schickten einen Weltenkreuzer. Die Zentralier waren verdammt sauer, dass das Flottenkommando ihnen wieder mal einen Kapitän vor die Nase setzte. Wir waren vollgestopft mit Vorräten, damit man vor dem Ende des Stromes die Aktion nicht wiederholen musste.«
»Dass die Leute auf Boryon das Bombardement überlebt haben«, sagte Claras verwundert.
Schlunke stieß ihn an. »Du warst noch nicht dort«, sagte er, »das merke ich sofort. Es gibt keine Meteoriten, die von dieser Atmosphäre nicht abgefangen werden, so dicht ist sie. Harte Strahlung allerdings ist etwas anderes.«
»Hm«, machte Claras, merkte sich das für eventuelle Verwendung und rieb sich die Stelle, an der Schlunke ihn berührt hatte. Dann nippte er wieder an dem kunterbunten Zeug in seinem Glas.
»Ich stürzte mich in den Strom«, fuhr Punt fort, »und es war wie gehabt. Wir mussten aus allen Rohren feuern, und nur die extrem hoch gespannten Schutzfelder der Arcadia retteten uns, als wir in die Turbulenzen kamen. Es war kein Durchkommen. Zurück nach Atibon Legba, große Beratung erwartet – nichts davon. Zwar gab es Stimmen, es käme billiger, die Bergleute aufzugeben, aber das hörte man nur unter der Hand. Christoff tauchte auf, als Lotse. Er hatte sich gemeldet und dem Flottenkommando irgendwie eine Theorie über den Strom beigebracht. Die hatten nichts davon kapiert, glaubten ihm jedoch, so sicherheitshalber. Schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen. Die Menschen auf Boryon lebten zu diesem Zeitpunkt von einem Becher Wasser am Tag, an geraden Tagen gab es eine Injektion mit Vitaminen und Beruhigungsmitteln. Der Luftvorrat reichte für ein paar Wochen. Und dieser furchterregende Herr Masurat führte die Arcadia durch den Strom, als hätte er in dem verdammten Ding gewohnt. Mir standen die Haare zu Berge. Er steuerte den Mittelpunkt der Turbulenzen an und jagte das Schiff hindurch, während wir im Feuer unserer Waffen und Schutzfelder glühten wie ein künstlicher Stern. Wir waren weiter gekommen als alle anderen, ehe sich für uns alle Schlupflöcher schlossen. Christoff ging ans Steuer, mein Pilot hielt sich die Augen zu, und ich war wie gelähmt. Um uns war mehr Fels als Kosmos. Mehr verdammter Fels, als selbst die Bewaffnung eines Weltenkreuzers verdampfen konnte. Ich habe nicht mehr hingesehen, ich gebe es zu. Plötzlich waren wir auf der Ekliptik von Boryon, wo es nur wenige Trümmer gab, und einige Tage danach, zu unserer und ihrer Überraschung, konnten sich die Leute auf Boryon zum ersten Mal seit etlichen Wochen wieder satt essen. Wie Christoff das geschafft hat, weiß er selber nicht. Ich habe mir die Aufzeichnungen von diesem Tag angesehen. Es gibt keine Erklärung. Plötzlich war da eine Lücke. Das kommt vor. Es kommt auch vor, dass eine solche Lücke groß genug ist für ein so großes Schiff. Aber die Arcadia hatte bereits lange, bevor sich die Lücke auftat, Kurs dorthin genommen ...«
»Und das sollen wir dir glauben?«, sagte Tullama.
»Soll ich dir die Dateien schicken? Dann kannst du es dir selbst ansehen.«
»Was hat denn das Flottenkommando dazu gesagt?«, fragte der alte Schlunke, der seine Erfahrungen mit der zähen Verwaltung in den Bürovierteln von A.L. hatte.
Punt grinste. »Ich habe meine Berichte geschrieben und abgeliefert, alles nach Vorschrift, mitsamt den Bildaufzeichnungen und Maschinenprotokollen. Und ich habe nie wieder davon gehört. Ich wundere mich nicht darüber. Es ist schwer zu glauben ...«
»Vor drei Jahren war das, da muss Christoff also schon seine Braut gehabt haben«, sagte Vliesenbrink. Punt war von dieser Bemerkung überrascht.
»Ja – die hat ihn damals aufs Schiff gebracht«, sagte er, »und er hat ihr versprochen, dass es bei Gott sein unwiderruflich letzter Flug sein wird.«
»Führe nicht Gottes Namen leichtfertig im Munde«, knurrte Schlunke, »sonst kriegst du Ärger mit den Päpsten.« Vliesenbrink verdrehte die Augen, und Claras kicherte albern.
»Na gut. Er hat versprochen, es ist sein letzter Flug.«
»Das verspricht er immer«, sagte Schlunke und schob sein leeres Glas beiseite, um seinerseits von Christoff Masurat erzählen zu können. Er pflegte seine ausladenden Handbewegungen beim Geschichtenerzählen. Die anderen wussten, was kam, wenn er sein Glas wegschob. Doch Vliesenbrink unterbrach ihn und sah forschend in die Runde.
»Ich habe gehört, er will wirklich Schluss machen.«
»Das wäre gar nicht gut«, meinte Schlunke.
»Du musst nicht denken, du wärst der Einzige, der hier ist, um Christoff auf sein Schiff zu holen«, sagte Tullama. Er blickte einem nach dem anderen ins Gesicht. Die Kollegen nickten. »Ihr habt alle erlebt, was er für ein extrem guter Lotse ist, und ich brauche so einen für meinen nächsten Auftrag.« Punt betrachtete eingehend die Wölbung seines Bauches. Claras fing an, sich mit einem blitzenden kleinen Ding die Fingernägel zu polieren. Schlunke rieb sich die Augen, als habe ein Wind Staubkörner hineingetrieben. Gaston Vliesenbrink stand unruhig auf und räkelte seine zwei Meter zwölf.
»Wir wollen uns wirklich um ihn streiten?«, fragte er und nahm seinen fast eimergroßen Becher, der, wie alle wussten, jenen fast reinen Alkohol enthielt, den die Karnesen zu kippen pflegten. Claras warf abschätzende Blicke auf Vliesenbrinks großen muskelstrotzenden Körper, in den eine Flüssigkeit gegossen wurde, die andere Leute umbringen würde. »Nicht dass du auf die Idee kommst, einen Ringkampf zu veranstalten.«
Der Einfall, einer von ihnen würde sich körperlich mit dem Karnesen messen wollen, war grotesk. Dass Claras selbst dem Schwerweltmenschen zu nah treten sollte, war weit grotesker. Vliesenbrinks Konstitution war auf mehr als doppelte Erdenschwere zugeschnitten, und hier trug er schwere Stahlplatten an den Füßen, um nicht zu hüpfen, wenn er gehen wollte. Claras war zwei Köpfe kleiner und wirkte neben dem karnesischen Kapitän zerbrechlich.
»Keine Angst«, knurrte Vliesenbrink, »du solltest dir besser überlegen, wie wir der Braut ausreden, dass Christoff nie wieder fliegt.«
»Warum sollte sie das überhaupt wollen?«
Punt lachte leise auf. »Familie gründen, Claras, Kinder kriegen, Haus bauen, einen Garten pflanzen, ein Buch schreiben, Großeltern werden, und was es da sonst gibt. Die Frau will nicht Wochen, Monate und länger auf Christoff warten müssen.«
Claras schwieg und nuckelte am Rand seines Glases herum. Diese Dinge blieben seiner Natur verschlossen. Die anderen Kapitäne indes verstanden. Sie redeten aufgeregt durcheinander, und vergeblich versuchte Schlunke, seine Geschichte über Christoff zu erzählen, die mit Geschossen und Kampf gegen irgendein Maschinenwesen zu tun hatte. Am Tisch kehrte erst Ruhe ein, als die Kapitäne eine hübsche Frau auf dem frei gehaltenen Stuhl sitzen sahen. Sie war nicht mehr die Jüngste, wenn auch attraktiv. Sie trug ihr braunes Haar lang und hielt es mit einem indianisch gemusterten Stirnband zusammen. »Die Braut ist bereits da«, sagte sie, und schlagartig verstummte das Gerede der fünf Kapitäne. Sie schauten die Frau verdutzt an. Tullama fing sich als erster.
»Es ist nicht so, dass wir Ihnen nicht die Ruhe gönnten«, erklärte er, »aber Sie müssen verstehen, dass Ihr Christoph Fähigkeiten hat, die zu wertvoll sind, als dass wir darauf verzichten könnten.«
»Sie werden es müssen« entgegnete die Frau mit leisem Spott, »er hat mir fest versprochen, aufzuhören mit dem Lotsenberuf.«
»Er ist mehr als ein Lotse«, murmelte der alte Schlunke, »er ist ein Lieblingskind Fortunas. Als ob er glückliche Zufälle ebenso anzieht wie ein einzeln stehender Baum die Blitze.«
»Und nun will der Baum seine Ruhe haben vor den Blitzen.« Sie blieb freundlich.
Claras‘ Stimme zitterte. »Er hat Menschenleben gerettet, und er könnte das wieder tun. Sehr bald sogar ...«
»Reden Sie mir keine Schuldgefühle ein, das verfängt nicht«, sagte die Frau lässig, und Claras verstummte. Hilfesuchend sah er zu Gaston Vliesenbrink. Der setzte sich und brachte dabei den Stuhl zum Ächzen. »Der Verlust von Christoff Masurat wäre für alle am Tisch ein schwerer Schlag, ich zum Beispiel müsste meinen Auftrag zurückgeben. Ohne Christoff wage ich mich dort nicht heran. Das wäre nicht nur peinlich für mich, sondern auch verheerend für das Flottenkommando. Die haben ein paar Wagenladungen gutes Geld in das Vorhaben gesteckt.«
Das Lächeln der Frau erlosch wie ausgeschaltet. »Falls das ein Erpressungsversuch sein sollte, sind Sie an der falschen Adresse«, antwortete sie kalt. »Christoff hat seine Lizenz an das Flottenkommando zurückgegeben. Vor einer oder zwei Stunden erst. Mit der Rohrpost. Es gibt keinen Lotsen Christoff Masurat mehr. Er kommt gleich her, da können Sie sich davon überzeugen.«
Punt seufzte in die entstandene Stille hinein. Alle am Tisch, außer der Braut des Lotsen, ließen die Köpfe hängen. Was sollte man dazu sagen. Stimmengewirr erhob sich in der »Laterne«, und es gab Aufsehen am Eingang des Lokals, wo der versteinerte Flamingo stand. Dann war es so weit – Christoff Masurat, der beste Lotse, den Atibon Legba je gesehen hatte, ging auf den Tisch zu. Er war eine beachtliche Erscheinung. Nicht sehr groß, Gesicht und Figur wie eine griechische Statue. Seine einundfünfzig Jahre sah man dem Lotsen nicht an, ebensowenig wie die Tatsache, dass der Mann hart arbeitete, um sich dieses Aussehen zu bewahren. Die schwarzen Haare zeigten allerdings erste grausilberne Strähnen, und etwas unterschied Christoff von den antiken Statuen, denen er ähnelte: Diese Statue lebte, man konnte sich an sie anlehnen, wie die Frau es jetzt tat, und sie konnte lächeln, wie nie ein Bildhauer seine Figur hatte lächeln lassen können. »Hast du ihnen Pfeffer gegeben, Sascha?« Er nahm die Frau in die Arme, und für einen Augenblick vergaßen beide die Runde der Kapitäne. Die blickten weg, von Claras abgesehen, dem in diesen Dingen Takt abging.
»Du«, sagte Sascha dann, »ich hab ihnen erklärt, dass es aus ist mit dem Lotsen Christoff.«
»Richtig.«
»Und dass wir auf Atibon bleiben und nicht mehr durchs All fliegen.«
»Richtig.«
»Und dass sie sich sparen können, dich abzuwerben ...«
»Richtig.«
»... weil ich das längst besorgt habe!« Er lachte. »Ich muss noch mal weg, Christoff, meine Schicht ist verlegt.«
»Ich weiß, man hat es mir im Kommando gesagt.«
»Morgen früh um zwei bin ich fertig und komme nach Hause. Du wirst staunen – ich habe den Steingarten jetzt mit dem Kristallzaun umgeben. Sieht herrlich aus.«
»Das ist schön.«
»Also – ich muss jetzt. Mach’s gut. Bis dann.«
»Ja. Bis dann.« Er blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, und setzte sich zu den Kapitänen. Betretenes Schweigen. Sofern sich noch Reste in irgendwelchen Gläsern befanden, wurden sie ausgetrunken. Gaston Vliesenbrink fraß in Rekordzeit ein weiteres Riesensandwich; er wusste nicht, was er sonst tun sollte, und Hunger gab es immer zu stillen.
»Es ist niemand gestorben, wisst ihr«, sagte Christoff nach ein paar peinlichen Sekunden. »Ihr müsst keine Beerdigungsgesichter machen.«
Vliesenbrink sah den Lotsen schief an und schluckte den letzten Bissen hinunter. »Ich wollte dich haben, um die Nebula sciuri zu erforschen, dort hat man die merkwürdigsten Signale empfangen ... Ohne dich ist es Verschwendung, überhaupt loszufliegen.«
Claras lachte sein helles Lachen. »Und ich wollte mit dir den verlorenen Dunkelplaneten suchen, den drei teure Expeditionen nicht gefunden haben. Du weißt, wie wertvoll die Vorkommen dort sind. Nun werden wir ihn nie finden.«
Christoff reagierte nicht. Er hörte zu.
»Das ist richtig nett«, sagte Punt. »Da sind wir ja alle angeschmiert. Mein Auftrag sind die vagabundierenden Müllkippen, die extrastellaren Ströme; es soll einen geben, der in unserem Sektor verschwunden ist. Wahrscheinlich hat ihn ein Stern eingefangen. Das wäre interessant, einen solchen Haufen in Ruhe studieren zu können. Das hat noch niemand geschafft. Aber finde einer diesen gefangenen Strom, wenn kein Christoff Masurat den Lotsen macht ... Nun wird man automatische Suchsonden losschicken. Wenn es gut geht, wissen wir bereits in ein paar zwanzig Jahren, wo der Strom steckt und ob es ihn überhaupt gibt.«
Auch Schlunke hatte einen Auftrag, den er zurückgeben musste – eine verrückte Maschinenfestung sollte er ausschalten. Dieser funktionierende Schrotthaufen verlegte den Zugang zu mehreren interessanten Planeten und damit einer Menge Kies, die einflussreiche Leute zu verdienen gedachten. Zwar hatte das Ding nur einen Bruchteil seiner Kapazität; dennoch war es ein unberechenbarer und gefährlicher Gegner. Um ihn zu besiegen, brauchte es verdammt viel Glück – einen Christoff eben.
»Ich bin schlimmer dran, ehrlich«, sagte Tullama leise, wie es seine Art war. »Ich habe mein altes Schiff wieder übernommen ...«
»Die Armorica?«, fragte Claras überrascht.
»Ja. Man hat Signale aufgefangen, die von der Vilm van der Oosterbrijk stammen könnten ...«
»So ein Quatsch«, stellte Vliesenbrink in gewohnter Lautstärke fest, »die ist seit mindestens fünfzehn Jahren verschwunden oder länger. Wenn es das Schiff noch gäbe, wäre es längst gefunden worden. Außerdem war mein Neffe Jonathan an Bord, und den brachte so leicht nichts um – wenn Jonathan es nicht schafft zu überleben, dann schafft es niemand.«
»Da sendet, wenn überhaupt, eine Automatik«, erwiderte Tullama, »vielleicht ein paar Überlebende, was weiß ich. Jedenfalls hat etwas die Kennung der verschollenen Vilm van der Oosterbrijk gesendet. Und ich wollte sie mit Christoff finden.«
»Ihr tut, als sei ich was Besonderes«, sagte Christoff. Die Kapitäne lachten bis auf einen los wie ein Mann. Als ob er das nicht wäre. Der glückliche Lotse, der er war! Die Legende! Bekannt im ganzen Sektor und weit darüber hinaus. Nur Gaston Vliesenbrink war seltsam ruhig; er dachte an seinen längst für tot erklärten Neffen Jonathan.
»Ich werde noch in dieser Nacht starten«, erklärte Tullama, »das werde ich wohl ohne dich tun müssen ...«
Christoff reagierte nicht auf die verborgene Frage. Man trank und schwatzte, ehe man sich trennte. Es blieb ein schaler Geschmack zurück. Um Mitternacht stand Christoff an der Mauer des Steingartens. Sie war aus kühl glitzernden Kristallen gefügt, wie Sascha gesagt hatte, und das weiche Licht warf kaum Schatten. Christoff sah sich um, ehe er seine Tasche im Eingang des Hauses abstellte. Er achtete nicht darauf, dass neugierige Nachbarn ihn beobachteten. Aus der Zustellkiste der Rohrpostverbindung holte er seine Lotsenlizenz, das Einzige, was er mitnahm. Er ging langsam und sah sich nicht um. Sascha würde alles klar sein – die Reisetasche, die offene Postanlage, die Hälften der Rohrposthülse. Keine Lizenz.
Als in der Armorica die Startvorbereitungen auf vollen Touren liefen, stand Tullama völlig überrascht dem Lotsen gegenüber, der sich zum Dienst meldete. Dem Kapitän fiel Sascha ein, die von ihrer Schicht kommen und sich allein finden würde. Er schwieg. Fragte nicht. Im Grunde genommen freute er sich, dass er den berühmten Lotsen hatte. Das war der halbe Erfolg der nicht sonderlich aussichtsreichen Suche nach der Vilm van der Oosterbrijk. Gaston Vliesenbrink übrigens hatte sich gemeldet und seine Ansprüche auf den Lotsen zurückgestellt. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Christoff es sich anders überlegte, sollte er besser nach dem verschwundenen Weltenkreuzer suchen. Im riesenhaften Körper des Karnesen schlug eben doch ein weiches Herz, nicht davon zu überzeugen, dass Jonathan nicht zu retten sein sollte. Erst als weit nach drei Uhr – Atibon Legba war nur noch ein Punkt auf den Bildwänden – der Weltenkreuzer langsam zu beschleunigen begann, fragte Tullama nach den Gründen des Lotsen. Er hielt es nicht mehr aus. Wie konnte Christoff so herzlos und kalt sein, Sascha einfach sitzenzulassen?
Der Lotse schwieg. Er schwieg lange. Dann versuchte er zu lächeln, was missriet; sein Gesicht war eine erschreckende Grimasse aus Schmerz und Angst. Tullama stand erstarrt.
»Ich weiß ja«, sagte Christoff, »dass ich so etwas wie ein Glückskind bin. Es heißt, ich hätte einen heißen Draht zum lieben Gott. Das ist Blödsinn, mal davon abgesehen, dass Leute wie Schlunke und seine Päpste für den lieben Gott eher Partner sind. Ich habe einfach – Glück.« Seine Stimme klang bitter. Tullama sah den Lotsen aufmerksam an. Dessen Lippen bebten, ehe er weitersprach. »Manche halten es für eine Kette der unwahrscheinlichsten Zufälle, die es je gegeben haben mag, andere für eine seltene Erbanlage. Ich bin bei Nervenärzten und Hirnspezialisten gewesen und habe mich aufs Genaueste untersuchen lassen. Ich bin normal. Sagen die Ärzte. Dachte ich auch. Ich war ein Raumfahrer wie alle anderen gewesen – erst als ich auf dem Rückweg von den Grauen Sonnen zwei Drittel meines Treibstoffes verloren hatte und direkt durch die Nebula sciuri fliegen musste, hatte ich zum ersten Mal außergewöhnliches Glück. Das brauchte ich auch, denn ich war gezwungen, die kürzeste Route zu nehmen. Ich konnte nicht glauben, dass mir ein guter Stern seither nichts als Glück beschert; doch so sah es aus.« Er winkte ab, und diese Geste war so verächtlich und resigniert, dass Tullama es kalt seinen Rücken hinabrieseln spürte.
»Erzähle mir alles«, bat er, »eventuell wird dir leichter.«
»Kaum«, erwiderte Christoff. »Schaden kann es nicht.« Er drehte sich um und schaute auf irgendeine Bildwand. Tullama war sicher, dass der Lotse nicht bemerkte, was angezeigt wurde. »Ich weiß, dass du mich für ein kaltes, seelenloses Vieh hältst«, fuhr Christoff langsam fort, »und ich weiß, was ich Sascha angetan habe, indem ich weglief. Aber anders konnte ich nicht handeln. Das war mein Ausweg.«
»Wegzulaufen?«, fragte Tullama verständnislos. »Wovor?«
Christoff fuhr herum und sah den Kommandanten wütend an. »Ist es euch«, sagte er leise, »in den Sinn gekommen, dass ich irgendwann bezahlen müsste?«
»Wofür?«
»Für diese unwahrscheinlichen Zufälle, die mich umgeben und die mir helfen. Für Routen an unheimlichen kosmischen Nebeln entlang, die niemand vor und nach mir jemals befliegen konnte. Für zufällig geahnte Ruhepunkte auf von Erdbeben umgerührten Planeten. Für sogar mir unverständliche Stellen im Meteoritenstrom, die sich plötzlich als ersehnte Lücke erweisen. Für das intuitive Erfassen jener Stelle im Orbit einer Maschinenfestung, in der es einen ausreichenden toten Winkel gab. Ich muss bezahlen für Zufälle und glückliche Umstände – verschollene Schiffe zu finden, verdriftete Planeten aufzuspüren, Dutzende Male dem Tod von der Schippe zu springen, die Passage zwischen den Grauen Sonnen zu überleben. Man muss für alles bezahlen. Manchmal sofort, manchmal später. Manchmal reicht Geld, manchmal eine andere Währung.«
Tullama wich zurück und sah den Lotsen an. War der wahnsinnig geworden?
»Das war alles Verschwendung«, sagte der Lotse leise, und er knöpfte langsam sein weißes Hemd auf. »Es sieht aus wie eine Absicht.« Der Lotse sprach noch leiser, als schäme er sich seiner Worte. »Womöglich habe ich zu viel bekommen, und etwas oder jemand rächt sich. Ich rede mir lieber ein, es ist ein weiterer Zufall ...« Er ließ das Hemd fallen und stand mit bloßem Oberkörper da. Eine Figur wie eine Marmorstatue, sorgfältig modellierte Muskulatur bedeckte Brust und Schultern. Doch die Rippen an der linken Seite hoben sich in bläulichem Farbton ab, und die Haut in diesem Bereich war ein wenig rissig und sah staubig aus. Schwache Ausläufer der Verfärbung tasteten nach den Bauchmuskeln und um die Hüften herum, ein missfarbener Streifen verschwand im Hosenbund. Christoff musste furchtbare Schmerzen haben, wahrscheinlich nahm er irgendwelche Mittel. Dieser merkwürdige blaue Farbtonwechsel war die Folge jener seltenen Strahlenkrankheit, die irdische Lebensformen, also auch menschliche Körper, in grauenvoller Umwandlung zu blaugeädertem Stein werden ließ, wie den Flamingo in der »Laterne«.
Der Lotse sah den Kapitän ruhig an.
»Mein Gott!«, brachte der mühsam hervor. »Man kann das doch behandeln!«
»Nein«, sagte der Lotse, und seine Ruhe war unheimlich und beängstigend, »bei mir nicht. Die Ärzte sind ratlos. Ich habe es erst vor einigen Wochen bemerkt, und die Krankheit schreitet rascher fort als sonst. Und es ist nicht so, dass es reichlich Erfahrungen damit gibt. Ich muss sie bereits lange in mir tragen. Es ist nie etwas registriert worden, und nun ist es zu spät. Zwei Rippen sind bereits komplett versteinert.«
Tullama schnappte nach Luft und hielt sich irgendwo fest. Das Blut unter der schwarzen Haut seines Gesichts wich zurück und ließ ihn grau aussehen. Christoff Masurat würde sich langsam und qualvoll zu Stein verwandeln, Zelle um Zelle, Nerv um Nerv, ein Knochen nach dem anderen. Muskeln würden sich verhärten, unbeweglich werden und für die Ewigkeit erstarren. Eine Körperfunktion nach der anderen würde im Prozess der Petrifikation untergehen; und es war gleichgültig, in welchem Stadium Christoff sich befand. Es konnte ihm kein Arzt der Welt helfen. Es würde noch Wochen dauern, wenige Wochen nur, in denen der Lotse die Überlebenden der Oosterbrijk finden wollte, die von irgendwo einen kaum hörbaren Ruf geschickt hatten. Danach würde sich das lebende warme Fleisch dieses Mannes in kalten Stein verwandelt haben.
»Und Sascha?«, flüsterte Tullama.
»Einem Schuft wird sie nicht lange nachtrauern, hoffe ich.« Der Lotse bückte sich nach seinem Hemd. Er konnte sich nur seitlich herabbeugen, wegen der Schmerzen in seinem sich verändernden Körper. »Du weißt jetzt Bescheid, Kapitän.« Christoff sah Tullama an. »Ist dir jetzt besser? Ich glaube nicht.« Damit wandte er sich um und ging auf die Tür zu, die gehorsam vor ihm aufglitt.
Tullama, der Kapitän, sah ihm nach und konnte nicht verhindern, dass es ihn schüttelte vor Grauen und einer Angst vor etwas Unbestimmtem, sehr Mächtigem.

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